Liegen lernen
der Ecke und murmelte fünfhundertmal »die dicke E-Saite« vor sich hin wie einer dieser Typen, die in der U-Bahn das Ende der Welt vorhersagen. Ich ließ die Finger von der Gitarre. Der Geschlechterkrieg mußte auch mit anderen Waffen geführt werden können.
3
Eine Woche später war Klassenfahrt. Nach Berlin. Sudhoff, unser Geschichtslehrer hielt es für dringend notwendig, vor Ort nachzusehen, was es mit der deutschen Geschichte auf sich hatte. Und deutsche Geschichte, das hieß für ihn: Berlin. Da hatte er studiert, da war er auf die Straße gegangen, da hatte er Rudi Dutschke kennengelernt. Naja, jedenfalls von weitem gesehen, gestand er später mal. Die beste Nachricht war: wir unternahmen die Fahrt zusammen mit einer Parallelklasse. Und zwar genau der von Britta.
Wir fuhren mit dem Zug. Alle Jungs waren auffallend pünktlich am Bahnhof. Wir standen in kleinen Gruppen herum und versuchten sehr ausgeschlafen zu wirken. Mücke rauchte. Dabei hatte er noch nicht mal gefrühstückt, wie er uns versicherte. Wer fehlte, war Britta.
Der Zug lief ein, die Türen gingen auf, wir stiegen in den Wagen, der für uns reserviert worden war, machten uns breit, lümmelten herum. Britta war immer noch nicht da. Sudhoff sprach mit dem Schaffner. Der schüttelte den Kopf. Sudhoff stellte sich in die Tür. Und als der Schaffner gerade die Trillerpfeife in den Mund nahm, kam Britta mit einem schweren Rucksack die Treppe hochgehastet und sprang in den Zug. Hinter ihr knallte die Tür zu. Natürlich war Sudhoff nicht sauer. Sudhoff war nie sauer. Vielleicht fand er mal was »echt nicht gut«, aber sauer wurde er nicht. Er gab ihr einen Klaps auf den Rucksack und Puste und die Haare schweißverklebt an unserem Abteil vorbeikam, waren alle sehr still. Dann sahen wir uns an. Mücke grinste und rieb sich den Schritt.
Sudhoff und die Klassenlehrerin der Parallelklasse, die magere Frau Jacobs, hatten ein Abteil für sich, und das war auch noch im nächsten Wagen. Mücke zog die Vorhänge zum Gang zu und holte aus seiner Tasche ein paar Dosen Bier. Wir hatten uns alle eingedeckt. Der lange Schäfer hatte einen Kassettenrecorder mitgebracht. Eigentlich wollte nie jemand etwas mit Schäfer zu tun haben, aber er hatte immer die neuesten Platten. Er bekam von irgendwoher Geld. Vielleicht stahl er aus dem Portemonnaie seiner Mutter. Oder seine Eltern waren ungewöhnlich großzügig. Schäfer hatte alles. Von Barclay James Harvest über Queen bis hin zu Ideal und Trio. Er hatte für diese Fahrt mindestens zwanzig Kassetten eigens zusammengestellt. Wir tranken Bier und redeten über die Musik, die wir hörten, und überlegten uns, an welche von den Mädchen wir uns in Berlin heranmachen würden. Niemand sprach von Britta.
Zunächst mal lief Barclay James Harvest: »Hymn«. Jesus came down from heaven to earth / People say it was a virgin birth. Es war ziemlich monoton. Ich mochte das nicht besonders. Außerdem sagte Mücke, Barclay James Harvest sei nur was für Mädchen und Schwuchteln: Zickenmusik, sagte Mücke, Teesäufergejammere. Es wurde viel Tee getrunken, damals. Jeder hatte ein Stövchen und Tassen aus Ton zu Hause herumstehen, und natürlich durfte das nicht richtig gespült werden, selbst wenn es aussah, als hätte jemand drei Jahre lang Teer darin aufbewahrt. Man ging in den »Teeladen« am Hauptbahnhof und kaufte Wildkirsch und Vanille und Orange Pekoe und Jasmin, schaufelte es zu Hause in einen braun gewordenen Strumpf, hängte den in die selbstverständlich vorgewärmte Kanne und goß das schließlich mit selbstverständlich kochendem Wasser auf und ließ die ganze Sache zwischen zweieinhalb und fünf Minuten (handgestoppt) ziehen.
Es gehörte zum guten Ton, dann und wann kleinere oder größere Runden bei sich zu Hause zu versammeln und den ganzen Nachmittag Tee zu trinken und zu reden. Dazu paßte nicht unbedingt Status Quo als Hintergrundmusik. Vor allem viele Mädchen hörten gerne Angelo Branduardi. Das war mir zu sanft, aber ich sagte nichts. Außerdem irritierte mich, daß ich wirklich gar nichts von dem verstand, was der Mann sang. Aus dem gleichen Grunde ist mir auch das französische Chanson bis heute fremd geblieben.
Manchmal, wenn der Teenachmittag in den Abend überging, holte jemand eine »Klampfe« hervor und fing an zu singen. Erst mal Joan Baez oder Hannes Wader, so zum Warmwerden. Dann auch mal was Selbstgeschriebenes. Danach löste sich die Runde meist schnell auf.
Ich hatte auch ab und zu
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