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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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war weiträumig abgesperrt. Das war keine vorübergehende Absperrung. Ein Geländer war fest im Asphalt verankert worden. Wir standen an diesem Geländer, als wollten wir so nahe wie möglich an das Tor ran. Am Tor liefen Soldaten herum und rauchten. Manchmal verschwanden sie in dem Gebäude rechts vom Tor, kamen aber nach ein paar Minuten wieder heraus. Plötzlich stand Britta neben mir.
    »Na?« sagte sie.
    Ich schluckte.
    »Schon ein komisches Gefühl, was?«
    »Ja«, sagte ich, obwohl ich nicht genau wußte, was sie meinte.
    Sudhoff erzählte jetzt, daß gleich hier an der Ecke früher das berühmte Luxushotel Adlon gestanden habe. Davon war nichts mehr zu sehen. Er erzählte auch, wann das Brandenburger Tor gebaut worden war. Dann machten wir uns wieder auf den Weg, diesmal auf der anderen Straßenseite. Nach ein paar Metern standen wir vor der sowjetischen Botschaft. Hinter einem gußeisernen Zaun stand riesengroß der Kopf von Lenin.
    Als wir weitergingen, ging Britta neben mir und sagte, sie fände es unmöglich, daß alle immer so über die DDR herfielen. 1961 habe man wohl kaum eine andere Wahl gehabt, als die Mauer zu bauen, so viele Leute seien aus der »Ostzone«, wie man das nannte, abgehauen. Was sollten die denn machen? Sie glaubten daran, daß der Sozialismus eine gute Sache sei. Und wenn wir uns mal umschauten, war es denn wirklich so schlimm? Sie hatte recht, es sah doch alles ganz normal aus.
    Als wir am Fernsehturm vorbeikamen, wollten einige hochfahren. Sudhoff erlaubte es. Er sagte, wir könnten uns jetzt alle ein wenig herumtreiben. Um sechs wollte er uns alle wieder am Bahnhof Friedrichstraße sehen. Ich merkte, daß Mücke mich ansah. Aber plötzlich sagte Britta zu mir: »Ich habe einen Wahnsinnsdurst. Sollen wir nicht irgendwo was trinken gehen?« Die Frage war ausschließlich an mich gerichtet. Niemand anders hatte sie gehört. Britta hatte sich leicht zu mir vorgebeugt und ziemlich leise gesprochen. Ich nickte. Dann sah ich Mücke noch mal an. Zwischen seinen Augen hatte sich eine steile Falte gebildet. Dann drehte ich mich um und folgte Britta.
    Wir fanden eine Kneipe in der Nähe des Alexanderplatzes, die noch Stühle draußen stehen hatte. Wir setzten uns und bestellten Bier. Das Bier war sehr preiswert, der halbe Liter nur fünfzig Pfennig. Ich fragte mich, wie ich bei diesen Preisen die fünfundzwanzig Mark loswerden sollte. Ich hatte gehört, man könne nichts zurücktauschen.
    Ich war ein wenig überrascht, daß Britta Bier trank. Es sah merkwürdig aus, sie trank in tiefen Schlucken.
    Wir hatten das Gefühl, wir wurden nicht betrunken, und bestellten immer weiter. Britta fragte mich aus. Wer meine Eltern seien und wo ich wohnte und was ich mal mit meinem Leben anstellen wollte. Ich wurde langsam etwas lockerer. Ich fragte mich, ob ich ihr sagen sollte, daß ich als Entwicklungshelfer nach Afrika gehen wollte. Das wollte ich zwar nicht, aber es hätte sicher Eindruck bei ihr gemacht. Aber dann dachte ich, ich müßte erzählen, warum ich nach Afrika wollte, und da hätte ich wohl kaum eine Antwort drauf gehabt. Also sagte ich, ich hätte mir noch keine Gedanken gemacht.
    »Dann wird es aber Zeit«, sagte sie. »In drei Jahren machen wir Abitur.«
    Drei Jahre. Sie hätte auch sagen können, im nächsten Jahrhundert. Das war für mich gleich weit weg. Ich fragte sie, was sie mal machen wolle. »Keine Ahnung«, sagte sie.
    Langsam wurden wir doch betrunken. Ich jedenfalls. Ich lief ständig zur Toilette. Wir lachten viel. Wir waren uns einig, daß das Bier nicht besonders gut war. Britta fragte mich, was Jungs an Fußball fänden. Ich zuckte mit den Schultern. Dann sagte sie, es sei Zeit. Wir mußten zurück. Als ich aufstand, war mir ganz komisch. Aber ich fühlte mich klar. Ich fühlte mich wohl nur komisch wegen Britta. Den ganzen Nachmittag hatten wir geredet. Nur wir beide. Wir gingen los.
    Meine Sinne waren enorm geschärft. Alles zeichnete sich viel deutlicher ab, alle Geräusche waren lauter. Ich roch die Autos auf der Straße und das, was hinten aus ihnen herauskam. Ich roch Britta. Ihr Haar, Apfelshampoo. Ihren Atem, Bier. Ich hätte am liebsten ihre Hand genommen, aber ich traute mich nicht. Sie hatte den ganzen Nachmittag mit mir geredet, das hieß noch nicht, daß sie mit mir Hand in Hand gehen wollte. Ich dachte daran, wie ich zum ersten Mal Hand in Hand gegangen war. Sie hieß Michaela. Es war auf dem Schulhof einer Realschule bei uns in der Gegend. Es war ihre Schule.

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