Life - Richards, K: Life - Life
Gründen oder so gescheitert. In Memphis gab es einfach kein Studio, wo sie anonym spielen konnten. Überall bestand die Gefahr, dass sie doch aufflogen. Als Stanley das hörte, flippte er aus: »Was zur Hölle soll ich denen erzählen?« Und ich: »Dass sie nach Muscle Shoals gehen sollen, dort kennt sie kein Mensch.« Was die reine Wahrheit war. Aber davon wollte Stanley nichts wissen. »Ich kenne diese Rednecks da unten doch gar nicht«, meinte er, »wie soll ich da …« - »Ruf Jerry Wexler an«, erwiderte ich, »der nimmt die Sache in die Hand.« Allerdings wusste ich nicht - niemand wusste das damals -, dass der Vertrag zwischen den Stones und EMI ausgelaufen war. Aber Wexler wusste es zweifellos, und so war die Sache in Sekundenschnelle organisiert. Eine Woche oder zehn Tage hörte ich erst mal nichts mehr davon, bis Stanley wieder mitten in der Nacht anrief. »Am Dienstag musst du in Muscle Shoals sein«, sagte er. »Die Stones nehmen auf. Aber kein Wort zu niemandem.« Ich fuhr also nicht mit meinem Auto, sondern mit dem meiner Frau, damit mich
niemand erkannte, und bretterte runter nach Muscle Shoals. Das alte Studio lag gegenüber vom Friedhof auf der anderen Seite des Highways. Ein kleines Gebäude, eine ehemalige Sargfabrik. Ich steige also aus und gehe rüber. Die Tür öffnet sich einen Spalt, Jimmy Johnson schaut raus und fragt mich: »Was willst du hier, Dickinson?« - »Ich bin wegen der Stones hier«, antworte ich. »Verdammte Scheiße, weiß denn ganz Memphis davon?« - »Nein«, antworte ich, »kein Mensch weiß davon. Nur die Ruhe, Jimmy.«
Außer uns war niemand da, die Stones waren noch gar nicht eingetroffen. Aber als sie kamen, landeten sie im größten Flugzeug, das jemals auf dem Flughafen von Muscle Shoals gelandet war. Und ich durfte bleiben, weil ich zu Stanley gehörte. Alle möglichen Leute behaupten heute, dabei gewesen zu sein, das ist alles gelogen. Ich werde immer wieder gefragt, ob Gram Parsons dabei war. Tja, wenn er wirklich dabei gewesen wäre, hätte wohl kaum ich Klavier gespielt, sondern er. In Wahrheit waren überhaupt keine Außenstehenden dabei. Mit Keith verstand ich mich sofort. Um die Wartezeit auf Jagger oder sonst wen zu überbrücken, jammten wir ein bisschen. Die Stones halten mich bis heute für einen Country-Pianisten. Fragt sich nur warum, ich kenne mich da gar nicht so gut aus. Okay, ich hatte ein paar Floyd-Cramer-Licks auf Lager, aber wahrscheinlich lag es vor allem an Gram Parsons. Sie hatten sich gerade erst mit ihm angefreundet, und darüber hatte Keith wohl seine Faszination für Country-Music entdeckt. Nach diesem Nachmittag, an dem wir zusammen Songs von Hank Williams und Jerry Lee Lewis spielten, durfte ich bleiben.
Als Mick »Brown Sugar« sang, war der Übergang von der Strophe zum Refrain jedes Mal anders. Ich hockte mit Stanley
im Regieraum. Der lässt da eine tolle Zeile aus, sagte ich, und plötzlich ertönte eine Stimme hinter dem Mischpult - dort stand eine Couch, und auf der lümmelte Charlie Watts. Mir war gar nicht bewusst, dass er mit im Zimmer war, sonst hätte ich den Mund gehalten. Aber Charlie meint nur: »Sag’s ihm!« - »Nein«, antworte ich, »ich werd ihm das ganz sicher nicht sagen.« Da greift er übers Mischpult, drückt auf den Knopf für die Gegensprechanlage und meint: »Sag’s ihm!« Also lege ich los: »Okay, äh … Mick, du lässt da eine Zeile aus. In der ersten Strophe hast du ›Hear him whip the women just around midnight‹ gesungen. Und das ist eine tolle Zeile.« Jagger reagiert mit einem halben Lachen und meint: »Ach ja, wer sagt das? Booth vielleicht?« - »Nein, Dickinson«, erwidert Charlie Watts. Und Jagger antwortet: »Kommt aufs Gleiche raus.« Ich bin mir nicht sicher, was er damit gemeint hat. Vielleicht in etwa: auf jeden Fall ein klugscheißender Südstaatler. Also, sollte ich eine Fußnote in der Geschichte des Rock’n’Roll hinterlassen haben, dann ist es diese Zeile - denn so wahr mir Gott helfe, ohne mich wäre »hear him whip the women« unter den Tisch gefallen.
Dickinson war ein wunderbarer Pianist. Wahrscheinlich hielt ich ihn damals wirklich für einen Country-Pianisten, einfach weil er aus dem Süden kam. Später fand ich raus, wie groß seine Bandbreite tatsächlich war. Eine schöne Abwechslung, mal mit so jemandem zu spielen. Ansonsten rannte man sich immer in der eigenen Promi-Existenz fest - man hatte von lauter Musikern gehört, mit denen man gerne spielen würde, aber es gab
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