Life - Richards, K: Life - Life
schlitterten wir auf ein rutschiges Rasenstück zu und überschlugen uns. Und das in einem Cabrio. Über die Windschutzscheibe und die Streben, die das Stoffdach trugen, rollten ganze drei Tonnen ab. Doch die Windschutzscheibe hielt. Es war ein Wunder. Wie ich später erfahren habe, war der Wagen aus Panzerteilen zusammengebaut worden, richtiges Stahlpanzerzeug - deutscher Schrott, der 1947, unmittelbar nach dem Krieg, auf den Schlachtfeldern herumgelegen hatte. Die hatten sich einfach geschnappt, was sie brauchten, und daraus ein echtes Stahlmonster gebastelt. Weshalb ich sozusagen in einem Panzer mit Stoffdach durch die Landschaft fuhr. Kein Wunder, dass Frankreich nach sechs Wochen platt war, kein Wunder, dass sie beinahe Russland erobert hätten. Ohne deutsche Panzer wäre ich nicht mehr am Leben.
Als es passierte, saß ich ehrlich gesagt schon nicht mehr im Auto. Ich schwebte drei, vier Meter über der Erde und sah zu. Ehrlich, man kann seinem Körper entkommen. Mein ganzes Leben hatte ich es versucht, und jetzt klappte es zum ersten Mal. Ganz ruhig, richtig leidenschaftslos beobachtete ich, wie sich die Karre dreimal überschlug. In Zeitlupe. Ich war gar nicht beteiligt, ich spürte nichts. Ich war eh schon tot, also was soll’s? Kurz bevor die Lichter ausgingen, fielen mir dann diese diagonalen Verstrebungen auf
der Unterseite auf. Sah nach ordentlicher Arbeit aus, sauber vernietet. Währenddessen lief der Film weiter, aber extrem langsam, so als würde man sehr lange die Luft anhalten. Natürlich wusste ich, dass Anita auf dem Beifahrersitz saß, und ein anderer Teil meines Hirns fragte sich, ob auch sie wohl gerade über der Erde schwebte. Ich machte mir mehr Sorgen um sie als um mich, denn ich hatte ja den Wagen bereits verlassen. Ich hatte mich in meinen Geist geflüchtet, oder wo auch immer man in einem solchen Sekundenbruchteil landet. Im nächsten Moment, als die Karre nach drei Überschlägen mit den Rädern nach unten in eine Hecke krachte, saß ich plötzlich wieder hinterm Steuer.
Zwei Monate vor seiner Geburt erlebte Marlon also seinen ersten Autounfall. Kein Wunder, dass er kein großer Autofahrer geworden ist. Er hat nicht mal den Führerschein gemacht.
Mit vollem Namen heißt er Marlon Leon Sundeep. Als Anita im Krankenhaus lag, rief Marlon Brando an, um ihr zu ihrem Auftritt in Performance zu gratulieren. »Marlon ist doch ein schöner Name. Also, wie wär’s mit Marlon?« Zu Hause in Cheyne Walk musste das arme Kind dann ein religiöses Ritual über sich ergehen lassen - Reis, Blütenblätter, Sprechgesänge, der ganze Mist. Meinetwegen, Anita war die Mutter, da war nichts zu machen. Wie du wünschst, Mutter, immerhin hast du gerade meinen Sohn zur Welt gebracht. Und so tanzten die bengalischen Bauls an, durch die Vermittlung von Robert Fraser. Robert ließ sogar ein Bettchen anfertigen, ein wunderschönes kleines Schaukelbett. Marlon Leon Sundeep Richards - auf Letzteres kommt es an. Der Rest ist nur Vorgeplänkel.
Bereits drei Jahre zuvor hatten wir erstmals den Stecker ziehen müssen, als der komatöse Brian neben seinem brummenden Amp lag - und trotzdem war er noch Anfang 1969, also im Jahr seines
Todes, auf einigen unserer Tracks zu hören. Kaum zu glauben, aber wahr: Autoharp auf »You Got the Silver«, Percussion auf »Midnight Rambler«. Aber das waren nur die letzten Notsignale eines sinkenden Schiffs.
Im Mai spielten wir schon seinen Ersatz ein: Mick Taylor. »Honky Tonk Women« stand auf dem Programm. Micks Overdub aus den Olympic Studios ist der Nachwelt erhalten geblieben. Uns überraschten seine Fähigkeiten überhaupt nicht. Er fügte sich ganz natürlich ein. Wir hatten ihn alle schon spielen gehört, wir kannten ihn aus seiner Zeit mit John Mayall and the Bluesbreakers. Die anderen warteten auf meine Reaktion, weil ich der andere Gitarrist war, aber ich sagte nur: »Hey, ich spiele mit jedem.« Wir mussten es einfach probieren, dann würden wir schon sehen, wie es lief. Und es lief großartig. Wir brachten brillantes Zeug zustande, mit das Beste, was die Stones je gemacht haben. Er hatte ein Gespür für Melodien, ein wunderschönes Sustain, einen Sinn für die Struktur eines Songs. Sein Sound war großartig, sehr soulig. Oft war er schneller am Ziel meiner Vorstellungen als ich selbst. Vor allem wenn er Slide spielte, konnte ich nur staunen - man höre sich nur mal »Love in Vain« an. Manchmal jammten wir ein bisschen, um uns aufzuwärmen, und plötzlich: Wow.
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