Life - Richards, K: Life - Life
Irgendwann malten wir die Kabel für die Bläser gelb an - wer die beiden sprechen wollte, brauchte bloß dem gelben Kabel bis zum Ende folgen. Trotzdem verlor man die Orientierung. Das Haus war verdammt groß. Manchmal musste ich einen halben Kilometer laufen, bis ich Charlie in irgendeinem Zimmer aufgespürt hatte. Aber dafür, dass wir praktisch in einem Bunker aufnahmen, war es ziemlich spaßig.
Die anderen fanden bald heraus, was man mit dem Keller so alles anstellen konnte. In der ersten Woche wussten wir nie, wo sich Charlie eingerichtet hatte; jeden Abend probierte er eine andere Kammer aus. Jimmy Miller empfahl ihm das hintere Ende des Korridors, aber davon wollte er nichts wissen. Das ist ja einen halben Kilometer weit weg, das geht nicht, ich muss näher ran. Also testeten wir ein Kämmerchen nach dem anderen. Zur Not konnten wir elektronisches Echo hinzufügen, aber ein natürliches war uns lieber, und das gab es da unten in den aberwitzigsten Variationen. Ich verzog mich mit meiner Gitarre in einen gefliesten Raum, richtete den Verstärker auf irgendeine Ecke und wartete ab, was davon beim Mikro ankam. Bei »Rocks Off« lief das so, vielleicht auch bei »Rip This Joint«. Klar, am Anfang kamen wir uns da unten schon ziemlich komisch vor, aber ein, zwei Wochen später hatten wir uns daran gewöhnt. Plötzlich war es völlig normal. Keine Diskussionen in der Art von »Was tun wir hier eigentlich? Was soll das werden?«, weder innerhalb der Band noch gegenüber Jimmy Miller
oder Andy Johns, dem Tontechniker. Wir wussten, was wir taten. Wir mussten nur durchhalten.
Vom späten Nachmittag bis fünf oder sechs Uhr morgens nahmen wir auf. Auf einmal war es hell, und mir fiel wieder mein Boot ein. Also die Treppe runter, durch die Höhle zum Steg und mit der Mandrax nach Italien. Zeit fürs Frühstück. Alle sprangen mit rein, Bobby Keys, ich, Mick, wer eben gerade Lust hatte. Meistens ging es nach Menton, in eine italienische Stadt, die wegen irgendeiner sonderbaren Vereinbarung halb in Frankreich lag, oder wir fuhren ein Stückchen weiter ins richtige Italien. Ohne Passkontrolle an Monte Carlo vorbei, direkt in den Sonnenaufgang, die Musik voll aufgedreht, eine der neuen Aufnahmen im Kassettenrekorder. Leg doch mal den zweiten Mix ein. In den Hafen einlaufen, auf ein leckeres italienisches Frühstück. Die Italiener wissen, wie man Eier zubereitet und Brot backt. Das war ein besonderes Gefühl von Freiheit - wir hatten gerade eine Grenze überquert, ohne dass sich irgendwer dafür interessierte. Die Italiener bekamen den neuesten Mix zu hören; mal schauen, was sie davon hielten. Wenn wir die Fischer im richtigen Moment erwischten, gab es mittags fangfrischen Roten Schnapper.
Zum Mittagessen legten wir in Monte Carlo an, auf eine Plauderei mit Onassis’ oder Niarchos’ Truppe. Den beiden gehörten die großen Jachten im Hafen, und man dachte sich immer, gleich gehen sie sich an die Gurgel.
Dieser Wasserweg war unsere Main Street. Den Titel hatten wir uns ursprünglich ausgedacht, weil er so amerikanisch klang. Schließlich hat jede Stadt in Amerika eine Main Street. Jetzt hatten wir auch eine Main Street - die Riviera. Und natürlich waren wir im Exil, es passte also perfekt. Mit dem Titel war alles gesagt.
Die Mittelmeerküste ist eine uralte Gemeinschaft, eine riesige Main Street, die sich über sämtliche Grenzen hinwegsetzt. Als ich
in Marseille abhing, wurde es seinem Ruf mehr als gerecht, woran sich bestimmt nichts geändert hat. Marseille ist die Hauptstadt eines souveränen Landes, das die spanische, die nordafrikanische, die gesamte Mittelmeerküste umfasst. Ein eigener Staat, der jeweils ein paar Kilometer im Landesinneren endet. Die Küstenbewohner - Fischer, Seemänner, Schmuggler - bilden eine unabhängige Gemeinschaft; Griechen, Türken und Ägypter, Tunesier, Libyer, Marokkaner, Algerier und Juden, alle gehören dazu. Dagegen haben Landesgrenzen keine Chance.
Wir ließen uns treiben. Auf nach Antibes. Oder nach Saint-Tropez, um die Weiber zu besichtigen. Alles kein Problem mit der Mandrax . Der Motor hatte einiges drauf, und wenn das Mittelmeer ruhig war, ging es flott voran. Der Sommer’71 war perfekt - prächtiges Wetter, ein sonniger Tag nach dem anderen. Die Navigation war auch kein Problem, man schipperte einfach die Küste entlang. Landkarten? Wozu? Anita setzte keinen Fuß auf das Boot - ich hätte ja keine Ahnung, was für Felsen unter der Wasseroberfläche lauerten. Lieber
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