LIGEIA - Ein erotischer Horrorthriller (German Edition)
und verzog die Lippen, beließ es dann aber bei einem Stirnrunzeln und verzichtete darauf, in die Unterhaltung einzusteigen.
Daraufhin herrschte für längere Zeit Schweigen.
4
Evan sah zu, wie Wasser in die Abdrücke lief, die seine bloßen Füße im Sand hinterlassen hatten. Die steten Wellen wiegten einen in trügerischer Sicherheit, wenn sie mit verlässlichem Grollen heranrollten, um sich – zack! – sofort wieder zurückzuziehen. Und doch waren sie völlig unberechenbar. Während seines Strandspaziergangs waren seine Füße nur ein einziges Mal nass geworden, dennoch schimmerten seine Fußabdrücke plötzlich feucht, weil die Brandung stärker geworden war. Immer näher wogten die Wasserkronen an den Weg, den er eingeschlagen hatte, heran.
Nach dem Abendessen war er zu Fuß den langen Küstenabschnitt bis nach Safe Harbor gewandert. Nun hockte er auf einem kalten, von den Naturgewalten geschwärzten Felsblock, der den Anfang von Gull’s Point markierte, und blickte zurück auf die funkelnden Lichter von Delilah. Vor dem Funkeln des sternenübersäten Nachthimmels war seine Heimatstadt kaum auszumachen. Im Glanz der Sterne wimmelte es am ganzen Strand nur so von verborgenen Lichtreflexen.
Evan lehnte sich zurück und starrte zum Himmel hinauf. Geistesabwesend berührte er den durchgebrochenen Glücksbringer, den er an einer Kette um den Hals trug. Josh hatte die andere Hälfte getragen. Es war ein Geschenk des Jungen zum Vatertag gewesen, damals, vor ein paar Jahren. Indem sie zwei Hälften einer Medaille trugen, bekundeten sie, dass sie zusammengehörten.
Er blickte den verlassenen Strand entlang und fragte sich, wie viele Tage und Nächte er wohl mit Josh kreuz und quer durch den Sand marschiert war. Wie viele Male Josh versucht hatte, ihn dazu zu bewegen, mit ins Wasser zu kommen. Und wie er sich genauso oft standhaft geweigert hatte.
Joshs Sternzeichen war Fische, und er machte seiner astrologischen Vorprägung alle Ehre. Ihn aus dem Wasser herauszubekommen, glich einer Herausforderung.
So nahe sie einander gewesen waren, diese Vorliebe hatten Vater und Sohn nie geteilt. Denn Evan liebte zwar den Anblick und den Geruch des Meeres, doch ironischerweise quälte ihn zugleich eine Aquaphobie. Angst vor dem Wasser. Nein, mehr als nur Angst. Es war eine ausgewachsene Panik! Verrückt für jemanden, der am Meer lebte und in einem Hafen arbeitete. Doch Evan hatte es nie geschafft, diese lähmende Furcht abzuschütteln. Sie begleitete ihn seit seiner Kindheit. Es steckte mehr dahinter als lediglich die Tatsache, dass er nicht schwimmen konnte. Zwar konnte er am Strand entlangspazieren und die Aussicht genießen; wenn man ihn jedoch bat, mit ins Wasser zu kommen, begann sein Herz wie wild zu pochen und der kalte Schweiß brach ihm aus.
Allein bei dem Gedanken, ins Meer hinauszuwaten und sich von den Wellen tragen zu lassen, bekam er spürbar weiche Knie. Selbst zu Hause benutzte er ausschließlich die Dusche … niemals würde er seinen Körper einer Badewanne anvertrauen. Keiner seiner Freunde begriff, weshalb er die Einladungen zu ihren Poolpartys stets ablehnte. Er konnte ihnen unmöglich anvertrauen, dass seine Furcht, mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche zu kommen, dafür verantwortlich war. Zumindest bis zum letzten Jahr hätte er es niemandem erklären können.
Evan kämpfte schon sein ganzes Leben gegen die Auswirkungen der Phobie, hatte sich damit aber weitgehend arrangiert … bis zu dem Tag, an dem Josh starb.
Er blinzelte die Tropfen aus den Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken. An etwas, was ihnen beiden Spaß gemacht hatte, etwas, das nichts mit dem Wasser zu tun hatte. Irgendeinen letzten Gedanken, an dem er sich tröstend festklammern konnte, bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzte. Er hatte sich am früheren Abend entschlossen, Sarah keinen Gutenachtkuss, sondern einen Abschiedskuss zu geben.
Evan fixierte die Stelle der Bucht, an der Josh endgültig untergegangen war, und schätzte die Entfernung bis dorthin ab. Gleichzeitig gewann eine glückliche Erinnerung an ihn, Josh und eine Akustikgitarre die Oberhand, und er musste blinzeln, um nicht laut loszuheulen, als er an den Tag zurückdachte, an dem er mit seinem Sohn auf der Terrasse saß und sie gemeinsam Daydream Believer und die wenigen anderen Songs schmetterten, die er auf der Gitarre zustande brachte.
Er entsann sich an einen seiner Favoriten von den Psychedelic Furs, Forever Now, und begann zu singen. Josh
Weitere Kostenlose Bücher