Liliane Susewind – Delphine in Seenot (German Edition)
wütend, doch ohne dass Lillis Oma ein weiteres Wort sagen musste, schloss Lillis Mutter die Augen und schien im Stillen bis zehn zu zählen.
»Wir sollten Lilli und Jesahja heute nicht allein in der Pension lassen«, sagte Lillis Oma. »Auch wenn wir Karten für den Nordsee-Konzerttag haben.«
»Da gehen wir keinesfalls hin!«, rief Herr Susewind. »Nicht, wenn Lilli sich nicht gut fühlt!«
»Mit mir ist alles in Ordnung«, widersprach Lilli. »Ihr könnt ruhig hingehen. Bitte! Ich will nicht, dass ihr das meinetwegen verpasst!« Ihre Eltern, ihre Oma und Genoveva hatten während des gestrigen Abendessens über nichts anderes gesprochen als über den Nordsee-Konzerttag: Einen ganzen Tag lang fanden in einem Park verschiedene Konzerte mit klassischer Musik statt, und am Abend gab es Tanz. Die Kinder hatten jedoch keine Lust auf solch eine Erwachsenen-Veranstaltung und hatten sich einen Tag »sturmfreie Bude« erkämpft. Dieser stand nun auf der Kippe.
»Lilli, versprichst du, keinen Unsinn anzustellen, während wir weg sind?«, fragte ihre Oma eindringlich.
Lilli nickte.
»Und dir geht es wirklich gut? Dir tut nichts weh?«, hakte ihr Vater noch einmal nach.
Lilli schüttelte den Kopf.
»Dann sollten wir zum Konzerttag gehen. Wir haben uns alle so sehr darauf gefreut …«, entschied Lillis Oma.
Lillis Mutter blieb während des Wortwechsels erstaunlich ruhig. Sie verhängte weder eine Strafe für Lillis nächtliches Abenteuer, noch schärfte sie ihrer Tochter erneut ein, sich unauffällig zu verhalten – immerhin würde Feline heute ebenfalls zu Hause bleiben. Lilli nahm an, dass ihre Mutter so nachsichtig war, weil sie gerade noch an Gänseblümchen gedacht hatte.
»Vorher müsst ihr aber alle mit rauskommen«, sagte Lillis Oma mit stolzer Stimme. »Die Rampe ist fertig!« Omas Augen leuchteten. Zwei Tage lang hatte sie kaum etwas anderes gemacht als zu sägen und zu hämmern.
Lilli wälzte sich aus dem Bett und tapste im Nachthemd hinter ihrer Oma und den anderen hinunter zur Terrasse. Dort befanden sich bereits Genoveva und Feline. Genoveva trug ein sonnengelbes, weites Gewand und strahlte über das ganze Gesicht. Feline saß zusammengesunken in ihrem Rollstuhl und betrachtete nachdenklich die Rampe. Ein langer Weg aus Holzbrettern verband nun die Terrasse mit dem Steg.
»Wirklich nicht übel«, sagte Lillis Vater anerkennend.
»Die Rampe ist einfach gigantisch!«, stimmte Genoveva zu. Offensichtlich hatte sie die Konstruktion umgehend dekoriert: Klingelnde Windspiele, Luftballons und bunte Blumen-Wimpel zierten die gesamte Strecke. »Jetzt kannst du runter zum Meer«, sagte Genoveva gerührt zu ihrer Tochter.
Feline rang sich ein Lächeln ab, doch Lilli sah ihr an, dass sie weitaus weniger aufgeregt war als die anderen. Mit einer kräftigen Armbewegung brachte Feline den Rollstuhl in Bewegung und fuhr die Rampe hinab. Lilli beobachtete, wie sie mithilfe der Rampe langsam den Strand überquerte und auf den Steg rollte. Am Ende des Steges kam der Rollstuhl zum Stehen. Alle hielten den Atem an, als müsse im nächsten Augenblick irgendetwas Wunderbares geschehen, aber Feline blieb einfach dort sitzen und starrte mit grüblerischem Blick aufs Meer.
Genoveva sagte mit bebender Stimme: »Aber Feline hat sich doch gewünscht, dass sie näher ans Wasser heran kann!«
»Wahrscheinlich merkt sie gerade, dass es eigentlich keinen Unterschied macht, ob sie auf der Terrasse sitzt oder auf dem Steg«, sagte Frau Susewind. »Auch eine Rampe ändert nichts daran, dass sie weder laufen noch schwimmen kann.«
»Wahrscheinlich stimmt das«, murmelte Genoveva traurig und versank für einen Moment in Gedanken. Doch dann straffte sie die Schultern, hob den Kopf und verkündete: »Irgendwann wird es meiner Feline besser gehen. Daran glaube ich ganz fest.«
Während die Erwachsenen sich unterhielten, bemerkte Lilli, dass über ihnen wieder ein paar Möwen kreisten. Fasziniert verfolgten sie jede von Lillis Bewegungen. Eine Sekunde lang schloss Lilli die Augen und überlegte, was sie tun sollte. Wenn die Möwen in der Luft blieben, würde niemandem etwas auffallen, doch wenn sie landeten, hatte sie ein handfestes Problem.
Da hörte sie eine der Möwen kreischen: »Ich habe das Möwenmädchen noch nie fliegen gesehen. Wenn sie wirklich eine Möwe ist, wieso hat sie keine Flügel?«
Eine andere Möwe antwortete: »Sie hat Flügel am Kopf!«
Lilli griff sich erschrocken ins Haar. Anscheinend sah ihre Löwenmähne
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