Liliane Susewind – Delphine in Seenot (German Edition)
das Haus herum. Die Möwen folgten ihnen in der Luft. Schon von Weitem sah man die weißen Blüten an den Kirschbäumen. Obstbäume blühten normalerweise im Frühling, doch diese hier blühten mitten im August! Kein Wunder, dass Feline Verdacht geschöpft hatte.
Hinter Genovevas Garage trafen sie auf Frau von Schmidt, die es sich unter einem der Bäume gemütlich gemacht hatte. Sobald die Katze Lilli sah, erhob sie sich graziös und rieb ihren Kopf an Lillis Bein. Dabei maunzte sie: »Madame von Susewind, welch Bitternis ist Ihnen widerfahren? Ihren Ausdruck kann ich nur als kummervoll deuten.«
Lilli kniete sich seufzend neben die Katze und streichelte sie. Zum Glück schien Frau von Schmidt die Sache mit dem »Entfernen« der Nordsee zeitweilig vergessen zu haben. »Könnte ich Sie mit einer Maus erfreuen?«, miezte die Katze großzügig. »Wenn Sie möchten, kann ich sie Ihnen verzehrfertig –«
»Nein danke, schon gut«, wehrte Lilli ab.
»Dann vielleicht eine Amsel?«
Da landete eine der Möwen auf einem Ast neben ihnen. Es folgte eine weitere, dann noch eine und noch eine. Innerhalb weniger Augenblicke ließen sich über zwanzig Vögel in den Kirschbäumen und auf dem Garagendach nieder.
Frau von Schmidt zog sich vorsichtshalber in den Schatten des Baumes zurück.
»Möwenmädchen!«, krächzte eine der Möwen. »Schick uns nicht weg! Wir wollen wissen, was du bist!«
»Sie hat ihre Flügel ausgebreitet!«, quäkte eine andere.
Lilli strich sich mit beiden Händen übers Haar. Dadurch, dass ihre Locken an der Luft getrocknet waren, standen sie noch mehr vom Kopf ab als sonst.
»Diesmal werde ich euch nicht fortschicken«, richtete Lilli das Wort an die Möwen, und mit einem Mal herrschte Totenstille unter den Vögeln. In der Vergangenheit hatte Lilli schon oft ganze Vogelscharen darum gebeten, sie nicht zu verfolgen. Denn das taten Vögel äußerst gern. Alle frei lebenden Tiere waren ein Problem für Lilli. Sobald sie das Haus verließ, lief sie Gefahr, von Eichhörnchen, Mäusen oder herumstreunenden Katzen erspäht und angestarrt oder beschattet zu werden. Im schlimmsten Fall heftete sich innerhalb kürzester Zeit eine ganze Meute von Tieren an ihre Fersen. Lilli konnte das nur verhindern, indem sie mit den Tieren sprach und ihnen erklärte, dass ihr Verhalten schrecklich störend für sie war. Zu Hause hatte das gut funktioniert. Die meisten der frei lebenden Tiere der Stadt, in der Lilli seit ein paar Monaten lebte, kannten sie inzwischen und hatten verstanden, dass sie nur dann zu ihr kommen sollten, wenn Lilli sie rief.
»Lilli?«, kläffte Bonsai und zappelte aufgeregt.
»Nicht jetzt, Bonsai, ich muss mit den Möwen reden.« Lilli versuchte, sich zu konzentrieren. »Ich bin Lilli, und ich habe eine besondere Fähigkeit«, sagte sie dann zu den Möwen. »Ich spreche eure Sprache.«
Unter den Möwen brach Tumult aus. »Wie kommt das?«, wollte eine von ihnen wissen. »Sie ist wirklich ein Vogel!«, rief eine andere. »Komm, flieg mit uns! Wir zeigen dir die besten Futterplätze!«, kreischte eine dritte.
»Ich bin ein Mensch«, stellte Lilli klar. »Und das hier sind keine Flügel.« Sie wies auf ihre Haare und warf Jesahja einen verlegenen Seitenblick zu. »Das sind bloß … Menschenfedern.« Lilli hielt inne, denn sie glaubte, die Räder des Rollstuhls gehört zu haben. Doch dann schob sie den Gedanken beiseite. Sie irrte sich bestimmt. »Ich möchte euch um etwas bitten, Möwen. Bitte fliegt mir nicht mehr nach und beobachtet mich auch nicht mehr.«
Die Möwen schwiegen. In ihren kleinen Köpfen schien es gewaltig zu arbeiten. »Warum nicht?«, fragte eine von ihnen.
»Dadurch bekomme ich großen Ärger.«
Für eine Weile herrschte nachdenkliches Schweigen. »Na gut«, antwortete eine der Möwen schließlich. »Wenn du das nicht willst, dann folgen wir dir nicht mehr.«
Lilli atmete erleichtert auf. »Sagt ihr das auch allen anderen Vögeln, die hier leben? Bitte kommt nur zu mir, wenn ich euch rufe.«
»Wird gemacht«, erwiderte eine der Möwen, und die Vögel schwangen sich einer nach dem anderen wieder in die Lüfte. »Das Mädchen will nicht beguckt werden.«
Lilli und Jesahja sahen ihnen nach. Bald waren die Vögel nur noch kleine Punkte am Himmel.
»Na, das war ja leicht«, sagte Jesahja.
»Lilli?«, kläffte Bonsai nun noch einmal und hüpfte ungeduldig auf und ab.
»Was ist denn?«
»Das Mädchen im Rädersessel sitzt da drüben um die Ecke und lauscht!«
»Was?«
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