Liliane Susewind – Mit Elefanten spricht man nicht! (German Edition)
ungläubig den Kopf. »Mein Gott!«, flüsterte er und konnte den Blick nicht abwenden. »Hast du das gesehen?«
O nein, dachte Lilli und rutschte schnell von der Blüte weg. Sobald sie aber dem nächsten Zweig näher kam, erkannte sie, dass dort das gleiche Spiel im Gange war. Eine der Knospen öffnete sich und erblühte innerhalb weniger Sekunden. Schuldbewusst murmelte Lilli: »Tut mir leid.«
Jesahja sah sie zuerst verständnislos an, doch dann sprang er auf. Er stieß sich an den niedrigen Ästen den Kopf, aber er achtete nicht darauf. Fassungslos legte er die Hände an die Wangen. Das Buch fiel dabei auf die Erde, aber es kümmerte ihn diesmal nicht. »Machst du das etwa?«, rief er entgeistert und drehte sich staunend im Kreis, denn er bemerkte, dass an allen Zweigen um sie herum Blüten aufgingen und die grünen Büsche mit roten Tupfern durchzogen.
»Ich kann nichts dafür!«, beteuerte Lilli. »Ich meine … ich mach das nicht absichtlich!« Wenn sie den Blumen hätte sagen können, sie sollten damit aufhören, hätte sie es getan. Aber Pflanzen waren keine Tiere und hörten nicht auf sie.
»Mein Gott!«, wiederholte Jesahja immer wieder und starrte auf das frisch erblühende Blumenmeer. Dann fiel sein Blick wieder auf Lilli, und sein Staunen verwandelte sich in Entsetzen.
»Bitte verrate das keinem!«, bat Lilli verzweifelt und zupfte ihn flehend am Ärmel. Jesahja wich vor ihrer Berührung zurück und stolperte rückwärts von ihr weg.
»Bitte …«, murmelte Lilli leise, konnte aber nichts weiter tun, als Jesahja dabei zuzusehen, wie er, ohne den Blick von ihr abzuwenden, nach seinem Buch griff und dann durch die Büsche davonstob, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Familienrat
Einige Zeit später ging Lilli zusammen mit Bonsai ins Haus und betrat die Küche, wo ihre Oma am Tisch saß und an einer kleinen Holzfigur schnitzte, während ihr Vater damit beschäftigt war, das Abendessen vorzubereiten. Sobald Lilli durch die Tür hereinkam, hielten beide in ihren Tätigkeiten inne und schauten sie fragend an. Lillis Gesicht sprach offenbar Bände, denn ihr Vater sagte nur »Oje« und setzte sich an den Küchentisch, an dem auch Lilli wortlos Platz nahm. Sie beschloss, nichts von Jesahja zu erzählen. Der Ärger in der Schule war schon genug.
»Was war es denn diesmal?«, fragte ihr Vater vorsichtig. Er sah sehr besorgt aus. »Ist dir wieder ein ganzer Trupp Mäuse hinterhergelaufen?«
»Nein, gar nichts in der Art«, antwortete Lilli und zog betrübt die Nase kraus. »Ich hab mich mit ein paar Mädchen aus meiner Klasse angelegt.«
»Ach, Kind!«, rief ihre Oma kopfschüttelnd. »Als hättest du nicht schon genug andere Probleme!«
»Es war ja keine Absicht!«, verteidigte sich Lilli. »Ich wollte mich nicht neben ein Mädchen setzen, weil es direkt am Fenster saß. Da waren ein paar Topfpflanzen. Aber wo ich jetzt sitze, steht ein Hamsterkäfig! Der Hamster hat zwar die ganze Zeit geschlafen, aber ich hätte mir den Ärger sparen können. Das Mädchen am Fenster war total sauer, dass ich nicht neben ihr sitzen wollte. Und sie hat eine Menge Freundinnen!«
Lilli erzählte nun genau, wie der Tag verlaufen war. Ihre Oma und ihr Vater hörten aufmerksam zu und bemühten sich, sie aufzuheitern und ihr Mut zu machen. Lilli bemerkte, dass beide froh waren, dass niemand etwas von ihrer Besonderheit mitbekommen hatte und es nicht gleich wieder Einladungen zu Gesprächen und Konferenzen geben würde. Noch nicht.
»Was schnitzt du da eigentlich?«, fragte Lilli schließlich ihre Oma.
»Einen Elefanten«, erwiderte diese und zeigte Lilli die Figur, an der sie gerade arbeitete. Der kleine Holzelefant hatte riesengroße Ohren, einen Rüssel, der bis auf den Boden reichte, und sah so täuschend echt aus, als sei ein echter Elefant geschrumpft und Lillis Oma hätte ihn mit der Hand eingefangen.
»Der ist sehr schön«, sagte Lilli. »Noch schöner als die anderen.« Sie wies mit dem Kopf auf das Regal, in dem sich ein Großteil von Omas Schnitzereien befand.
»Ich hab das hier gesehen«, erklärte Oma und hielt ihr die Tageszeitung hin, auf deren Titelseite das Bild eines Elefanten abgebildet war.
»Was ist mit ihm los?«, fragte Lilli und zog die Zeitung zu sich herüber, um das Foto besser ansehen zu können. »Er sieht traurig aus.«
»Traurig?«, wiederholte ihr Vater skeptisch. »Wohl eher gefährlich! In dem Artikel steht, dass der Elefant bisher die Hauptattraktion im Zoo war. Aber in letzter
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