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Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Titel: Maigret - 35 - Maigrets Memoiren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Ein Kapitel, in welchem ich nicht ungern die Gelegenheit ergreife, endlich meine Beziehungen zu einem gewissen Simenon klarzustellen
    Es war im Jahr 1927 oder 1928. Ich habe kein Gedächtnis für Daten. Ich bin auch keiner von denen, die über ihr Tun und Lassen sorgfältig Buch führen, etwas, das in unserem Beruf häufig vorkommt und sich für manchen als sehr nützlich, bisweilen sogar als rentabel erwiesen hat. Und erst in jüngster Zeit sind mir die Hefte wieder eingefallen, in die meine Frau lange ohne mein Wissen, ja geradezu im Versteckten alle Zeitungsartikel klebte, die sich mit mir befaßten.
    Da uns in jenem Jahr eine bestimmte Affäre etlichen Verdruß bereitete, könnte ich das genaue Datum wohl ohne weiteres wiederfinden, aber ich kann mich nun einmal nicht dazu aufraffen, in den Heften nachzublättern.
    Es spielt auch keine Rolle. Zumindest an das Wetter erinnere ich mich deutlich. Es war ein Tag im frühen Winter, irgendeiner dieser farblosen, grau-weißen Tage, die ich gern als Bürotage bezeichne, weil man das Gefühl hat, in einer so trüben Atmosphäre könne überhaupt nichts Interessantes passieren, und weil man im Büro aus lauter Langeweile plötzlich Lust bekommt, alte Akten aufzuarbeiten, Berichte abzuschließen, die schon lange umherliegen, und verbissen, wenn auch lustlos, die laufenden Geschäfte zu erledigen.
    Wenn ich dieses konturlose Grau-in-Grau so nachdrücklich hervorhebe, so tue ich es nicht aus Freude an malerischen Hintergründen, sondern um zu zeigen, wie banal das Ereignis als solches war, wie völlig eingebettet in den Kleinkram eines banalen Arbeitstags.
    Es mochte gegen zehn Uhr vormittags sein. Der Rapport war vor etwa einer halben Stunde zu Ende gegangen, denn er war kurz gewesen.
    Heutzutage weiß auch das am schlechtesten informierte Publikum mehr oder weniger, woraus der Rapport bei der Kriminalpolizei besteht, doch zu jener Zeit hätten die meisten Pariser nicht einmal sagen können, welche Behörde am Quai des Orfèvres untergebracht war.
    Schlag neun Uhr also ruft ein Klingelzeichen die verschiedenen Dienstchefs in das große Büro des Direktors, dessen Fenster auf die Seine gehen. An der Zusammenkunft ist nichts Feierliches. Man tritt ein, die Pfeife oder Zigarette im Mund, meist ein Aktenbündel unterm Arm. Der Tag ist noch nicht richtig angerollt; für die einen oder anderen schmeckt er immer noch flüchtig nach Milchkaffee und ›Croissants‹. Man schüttelt sich die Hand. Man plaudert gemächlich, wartet, bis alle da sind.
    Dann berichtet jeder der Reihe nach dem Chef, was sich in seinem Sektor ereignet hat. Einige stehen, manchmal am Fenster, von wo man die Autobusse und Taxis über den Pont Saint-Michel fahren sehen kann.
    Entgegen den landläufigen Vorstellungen wird nicht immer nur von Verbrechern gesprochen.
    »Wie geht’s Ihrer Tochter, Priollet? Was machen die Masern?«
    Ich kann mich erinnern, daß auch schon Kochrezepte sachkundig und eingehend erörtert worden sind.
    Von ernsteren Dingen ist natürlich ebenfalls die Rede. Da hat zum Beispiel der Sohn eines Abgeordneten oder Ministers ein paar Dummheiten begangen, und weil er weiterhin munter drauflos wurstelt, muß man ihn ebenso schnell wie unauffällig zur Vernunft bringen. Oder: Ein reicher Ausländer ist vor kurzem in einem Luxushotel an den Champs-Élysées abgestiegen, und man beginnt sich bei der Regierung über ihn Gedanken zu machen. Oder: Ein kleines Mädchen wurde vor einigen Tagen auf der Straße aufgelesen, und seither hat sich kein Angehöriger gemeldet, obschon alle Zeitungen die Fotografie des Kindes veröffentlicht haben.
    Man ist unter sich, unter Fachleuten, und die Ereignisse werden vom rein fachlichen Standpunkt aus betrachtet, ohne überflüssiges Gerede, was alles sehr vereinfacht. Es gehört gewissermaßen zum täglichen Brot.
    »Nun, Maigret, haben Sie Ihren Polen von der Rue de Birague noch immer nicht verhaftet?«
    Ich beeile mich zu versichern, daß ich nichts gegen die Polen habe. Und wenn ich sie ziemlich häufig erwähne, so will das noch lange nicht heißen, daß sie ein besonders bösartiges oder verdorbenes Volk wären. Es ist einfach so, daß es damals in Frankreich an Arbeitskräften mangelte, weshalb man Tausende von Polen hereinholte und in die Bergwerke im Norden verschickte. Man trieb sie in ihrem Land aufs Geratewohl zusammen, ganze Dörfer aufs Mal, Männer, Frauen und Kinder, und verfrachtete sie in Eisenbahnzüge, ähnlich wie man früher schwarze

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