Liliane Susewind – Tiger küssen keine Löwen (German Edition)
offen stehende Fenster.
»Wie das?«, fragte die Direktorin mit erhobener Augenbraue. »Haben die Raubkatzen etwa Schlüssel für ihre Gehege?«
»Nein.« Nun musste Lilli mit der ganzen Wahrheit herausrücken. »Wir hatten ihre Käfigtüren vorher aufgeschlossen und angelehnt.«
Die Augenbraue der Direktorin verschwand fast in ihrem Haaransatz. »Könntest du das nochmal sagen? Ich glaube, meine Ohren funktionieren nicht richtig.«
Finn meldete sich zu Wort. »Ich war es, der die Türen geöffnet hat.«
»Aber es war meine Idee!«, warf Jesahja ein, damit Finn den Ärger nicht allein ausbaden musste.
Lilli erklärte: »Shankar und Samira sollten die Türen heute Nacht aufdrücken, damit sie ein bisschen zusammen sein können.«
Daraufhin sagte niemand mehr etwas, und es trat eine angespannte Stille ein. Frau Essig-Steinmeier begann wieder, auf und ab zu gehen, und ihre hallenden Schritte waren das einzige Geräusch im Raum.
Lilli verknotete nervös ihre Finger. Es stand so viel auf dem Spiel! Wenn die Direktorin wollte, konnte sie sie feuern – und Finn gleich mit!
Schließlich hielt Lilli es nicht mehr aus. »Was sagen Sie dazu?«
Die Direktorin blieb stehen und sah nacheinander Lilli, Jesahja und Finn an. »Wisst ihr, was mich am meisten enttäuscht? Dass ihr mich nicht eingeweiht habt. Weshalb seid ihr davon ausgegangen, dass ich euch verbieten würde, Shankar und Samira zeitweise ins gleiche Gehege zu lassen?«
Die drei wussten nicht, was sie sagen sollten.
»Wir dachten, Sie hätten etwas dagegen, dass die Raubkatzen aus den Käfigen gelassen werden und frei im Zoo herumlaufen«, antwortete Finn nach einer Weile kleinlaut.
»Bestimmt hätte ich auf ein paar Sicherheitsvorkehrungen bestanden. Aber generell halte ich die Idee für sehr gut.«
Lilli schaute betreten auf ihre Fußspitzen. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, Frau Essig-Steinmeier einzuweihen. Sie hatte nicht geglaubt, dass die Direktorin mit einer solch waghalsigen Sache einverstanden gewesen wäre.
»Viel schlimmer als die Sache mit den angelehnten Türen ist, dass ihr etwas dermaßen Gefährliches hinter meinem Rücken getan habt.« Die Direktorin seufzte. »Beim nächsten Mal kommt ihr gleich zu mir. Und wenn ich euch trotzdem etwas verbiete, dann, weil es gute Gründe dafür gibt und es wirklich zu gefährlich ist. Verstanden?«
Lilli und Jesahja nickten.
»Beim nächsten Mal?«, fragte Finn vorsichtig. »Heißt das, Sie schmeißen uns nicht raus?«
»Nein, das wäre mehr als unklug.«
Lilli stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Frau Essig-Steinmeier sprach weiter: »Finn Landmann, du bist der beste Pfleger, den wir haben. Auch wenn du noch in der Ausbildung bist. Und du, Liliane Susewind, hast vielen Tieren hier im Zoo sehr geholfen. Wir brauchen deine Hilfe auch in Zukunft. Und Jesahja Sturmwagner …« Die Direktorin streckte die Hand aus und tippte Jesahja gegen die Brust. »Irgendwie schaffst du es immer, dir einen Plan auszudenken, um den Dingen eine neue Wendung zu geben.«
Lilli blickte verwundert zwischen Jesahja und der Direktorin hin und her.
Jesahja schien ebenso wenig zu wissen, wovon Frau Essig-Steinmeier redete. »Was meinen Sie?«
Über das Gesicht der Direktorin huschte ein Lächeln. »Das weißt du doch genau.«
Jesahjas Gesichtsausdruck hellte sich schlagartig auf. »Heißt das … hat es etwa geklappt!?«
Frau Essig-Steinmeier nickte. »Heute Morgen erhielt ich ein Fax von dem Zoo aus Bayern, der Samira gegen eine Löwin eintauschen wollte. Der Direktor teilte mir darin mit, der Tausch sei geplatzt.«
Lilli blieb der Mund offen stehen. Das war zu schön, um wahr zu sein!
»Offenbar hat bei dem bayrischen Zoo jemand angerufen, der sich als Pfleger unseres Zoos ausgegeben hat«, fuhr Frau Essig-Steinmeier fort. »Dieser Jemand hat behauptet, unsere Tigerin Samira leide an einer schlimmen Krankheit namens Verliebosis. Es sei ein schlechter Handel, eine kranke Tigerin gegen eine schöne, gesunde Löwin einzutauschen. Der Unbekannte hat gesagt, er wolle den Zoo warnen und ihm raten, von dem Tauschhandel zurückzutreten, solange es noch möglich sei.« Frau Essig-Steinmeier bedachte Jesahja mit einem stolzen, beinahe mütterlichen Blick. »Ich habe mir gleich gedacht, dass du es warst, der in Bayern angerufen hat. Ich weiß noch gut, auf welch clevere Art du das Geld für Ronni aufgetrieben hast.«
Jesahjas Augen strahlten. »Die haben mir tatsächlich geglaubt!«
»Ja, das haben sie«,
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