Besonderen, nicht diesen Einen, der mich vermisste und sich sorgte. Dem ich über alles ging.
Das tat weh.
Ich war melancholisch, so tieftraurig wie damals vor zwei Jahren, bevor Hannes wieder sicht- und fühlbar in meinem Leben geworden war. Und ich war so weich gewesen, so durchlässig und empfänglich – Humus, wie er reichhaltiger nicht hätte sein können.
***
Datum: 4. April 2007 21.33 Uhr
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: Sweet Souvenirs
Lieber Robbie,
in Hannes Schneider verliebte ich mich sozusagen doppelt. Zum ersten Mal mit sechzehn, als meine Eltern- mir endlich erlaubten, samstags zusammen mit einer Freundin in eine Disco zu gehen, wo ich mit Hannes – sofern er nicht mit seiner Band in irgendeinem Sportheim spielte – ausdauernd in einem dunklen Eckchen herumknutschte. Zum zweiten Mal erwischte es mich mit dreiunddreißig, als Discos für mich längst wieder passé, für meinen Vater hingegen plötzlich hip geworden waren. Meine Mutter rang die Hände.
Mit zwanzig hatte ich Hannes zum letzten Mal gesehen. Ich verbrachte die Semesterferien zu Hause und traf ihn auf der Straße. Viel passierte damals nicht. Wir gingen einen Kaffee trinken, erzählten uns die Neuigkeiten aus unserem Leben und ließen die Zeiten unserer Disco-Begegnungen unerwähnt.
»Undinchen, Undinchen«, sagte er sinnend zum Abschied. Danach verloren wir uns aus den Augen. Ich studierte zu Ende und ging mit Mitte zwanzig als Regieassistentin ans Stadttheater Augsburg, wo ich fünf Jahre blieb, bis ich den Dramaturgen-Job im ARENA in München bekam. Hannes blitzte zwischen all den Opern- und Theaterproduktionen, Beziehungen und Affären hin und wieder in meinen Gedanken auf, meistens dann, wenn ichHannes Jaenicke im Fernsehen sah, der mich nicht nur aufgrund seines Vornamens, sondern vor allem wegen seiner Stimme an »meinen« Hannes erinnerte.
Glaub mir, Robbie, manchmal ist es verrückt, wie die Dinge laufen – wer wüsste das besser als Du? Jedenfalls ist es fast zwei Jahre her, da wollte einer unserer Regisseure Jaenicke in einem neuen Stück besetzen und ließ mich über dessen Agentur anfragen.
»Geduld. Bitte Geduld«, bat mich eine distanzierte Stimme am Telefon mit dem Verweis, Hannes drehe gerade in der Schweiz und danach in Schwerin. Umso erstaunter war ich, als zwei Wochen später der Apparat auf meinem Schreibtisch klingelte.
»Hallo«, hörte ich eine Männerstimme mit jenem kehligen Timbre sagen, das ich sofort erkannte. »Ich wollte mich mal melden.«
»Oh, das ging aber flott, Herr Jaenicke. So schnell habe ich gar nicht mit Ihnen gerechnet.«
Sekundenlange Stille, dann ein Räuspern. »Undine?«
Diesmal zögerte ich: »Ja?«
»Hier ist Hannes.«
Wer denn sonst? Plötzlich schlug mein Herz ein hohes C. Meine Stimme stockte. Ich holte Luft. »Hannes? Hannes Schneider?«
»Fall jetzt bitte nicht tot um.«
Ich war so perplex, mir fiel keine passende Antwort ein. Für einen Moment schloss ich die Augen.
»Hannes«, wiederholte ich und schlug sie langsam wieder auf.
Inzwischen war er neununddreißig. Verheiratet natürlich. Schon seit sieben Jahren. Seine Frau war Altenpflegerin,die Kinder – ein Mädchen und ein Junge – drei und fünf gingen in den Kindergarten.
Hannes hatte unsere Heimat nicht verlassen.
Nicht einmal das Haus seiner Eltern, wo er im ausgebauten Dachgeschoss wohnte und von dort den Panoramablick über das gesamte Dorf genoss. Er arbeitete im Versicherungswesen einer Bank und trat an den Wochenenden nach wie vor mit seiner alten Band auf. Jeden Samstag für die Gäste eines Tagungshotels. Er, wie früher, am Schlagzeug und am Mikrofon.
Ein paar Wochen später schickte er mir per E-Mail eine Aufnahme von sich: Billy Joels ›She’s always a woman to me‹, und als ich ihn nach so vielen Jahren wieder singen hörte, wurde alles wieder lebendig: die frühere Faszination, die Sehnsucht, das Augen-Nicht-Abwenden-Können, mein wahnsinniges Verliebtsein.
Wenn eine Stimme Seele spiegeln kann, dann seine. Sie streichelte und traf ins Mark, war frei von Künstlichkeit und Kalkül. Wenn er sang, konnte man spüren, wie er vielleicht im tiefsten Inneren war.
Immer wieder hörte ich ihm zu und es schnitt mir ins Herz, dass er dieser Gabe, die ihn weit über das Mittelmaß stellte, so wenig Raum gab, sie so entsetzlich klein hielt, ja, dass er sie für einen sicheren Job und die daraus resultierenden Piepen auf der Bank so schmählich aus