Lilientraeume
Jahrhunderten steten Wechsels und Wandels, die dem alten Gebäude sehr zugesetzt hatten, lud das Hotel am Markt endlich wieder Gäste ein. Zwanglos streiften sie durch die lichtdurchfluteten Räume, scharten sich in Gruppen um die heimeligen Feuer in den steinernen Kaminen und stießen in der offenen Küche auf die Wiederauferstehung des Hauses an. Andere saßen auf der buttergelben Couch und nippten an farbenfrohen Cocktails, und es gab sogar einige Verwegene, die der Kälte trotzten und sich den Hof sowie die Veranden und Balkone anschauten.
Falls jemand auf seiner Besichtigungsrunde den sommerlichen Duft von Geißblatt roch, dachte er sich nichts dabei. Gleiches galt, wenn er eine flüchtige Berührung an der Schulter spürte – er hielt es für einen anderen Gast. Zweimal bemerkte Owen, als er Freunde durchs Haus führte, dass die Balkontür des E&D offen stand. Er schloss sie schweigend wieder, ohne dass es aufgefallen wäre. Zu sehr waren die Besucher mit dem Betrachten der Einrichtungsgegenstände beschäftigt.
»Hör auf«, raunte er schließlich leise beim Verlassen des Zimmers, und tatsächlich schien sie sich eine Weile daran zu halten, denn bei einem späteren Kontrollgang waren die Türen nach wie vor geschlossen.
Dafür traf er unversehens auf Franny, die eine schwarze Hose, eine weiße Rüschenbluse und ein eng geschnittenes schwarzes Jackett trug. »Hallo«, grüßte sie. »Ich hab noch ein paar kalte Platten vorbeigebracht, und jetzt seh ich mir alles an.«
»Du siehst gut aus, Franny.«
»Danke. Ich hab mich extra ein bisschen gestylt, damit ich nicht unangenehm auffalle, wenn ich was rüberbringe.« Sie trat ans Bett und strich mit den Fingern über das gepolsterte Fußteil. »Mein Gott, es ist einfach alles wunderschön. Ehrlich, das reinste Wunder.«
»Danke. Wir sind auch mächtig stolz.«
»Dazu habt ihr allen Grund. Bisher hab ich nur die Zimmer im ersten Stock gesehen und weiß schon jetzt nicht, welches ich am schönsten finde.«
Owen grinste. Variationen dieses Satzes hörte er bereits den ganzen Abend, aber trotzdem stimmte er ihr lächelnd zu: »Da geht es dir wie den meisten, und ich selbst nehm mich davon nicht aus. Soll ich dich ein bisschen rumführen?«
»Nicht nötig. Ich finde mich alleine zurecht. Es ist wie auf einer Forschungsexpedition«, fügte sie lachend hinzu. »Bloß dass man hier ständig Leute trifft. Dick zum Beispiel ist gerade drüben im E&R.«
»Dick, der Frisör oder der Banker?«
»Manchmal bist du wirklich witzig. Dick, der Frisör. Und Justine und Clares Eltern waren eben in der Bibliothek.« Sie ging an ihm vorbei und betrat das Bad. »Oh, diese Wanne sieht aus wie aus einem alten englischen Roman.«
»So war es auch gedacht.«
»Eine tolle Idee. Am liebsten würde ich erst mal in diesem Badezimmer bleiben, aber das hab ich bisher von jedem Raum gesagt. Wie gesagt, kümmer dich einfach nicht um mich und geh zurück zu deiner Party, ja? Übrigens wollte ich dir noch sagen, dass wir uns alle für dich und Avery freuen.«
»So, tut ihr das?«
»Allerdings war es eine Riesenüberraschung. Weil ihr doch so alte, gute Freunde seid.«
»Sogar für uns war es eine Überraschung.«
»Trotzdem ist es wirklich schön. Sie hat es verdient, glücklich zu sein, und vielleicht hast du auch jemanden wie sie verdient.«
»Ich geb mir alle Mühe.«
»Das ist gut zu hören, denn wir mögen sie sehr. Und falls du ihr wehtust«, sagte sie und stach ihm einen spitzen Finger in die Brust, »kriegst du irgendwann von mir eine mit jeder Menge Abführmittel versetzte Calzone vorgesetzt.«
Sie zog die Brauen hoch und nickte mit dem Kopf. »Aber weil du mir ebenfalls sympathisch bist und ich nicht unfair sein will, mach ich bei ihr dasselbe, falls sie dich schlecht behandelt.«
»Vielleicht sollte ich eure Pizzeria in diesem Fall lieber meiden, wenn ich mir das so anhöre.«
»Benimm dich, dann passiert nichts. Und jetzt seh ich mir das nächste Zimmer an.«
Als sie den Raum verließ, roch Owen den vertrauten Geißblattduft und hörte leises Lachen hinter sich. Sehr witzig, diese Weiber, dachte er. Selbst die toten waren nicht besser.
Abermals hinderte ihn jemand daran, das Zimmer zu verlassen. Dieses Mal war es Averys Vater. Würden Stammesfürsten in den schottischen Highlands Anzüge und getupfte Krawatten tragen, sähen sie bestimmt genauso aus wie Willy B. MacTavish.
»Hallo. Ich bin gerade auf der Suche nach Justine.«
»Sie soll in der Bibliothek sein,
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