Lilith Parker: Insel Der Schatten
verschwinden. Man kann wohl nie oft genug sagen, dass ein Moor kein Spielplatz ist.«
Lilith schluckte schwer. Je mehr sie über diesen Ort erfuhr, umso stärker wurde ihr Wunsch, auf der Stelle wieder heimzufahren.
»Lilith, dann sollten wir uns dieses Kindermoor einmal ansehen, oder?«, schlug Matt in ironischem Ton vor. »Das scheint wohl der einzig spannende Ort auf dieser verlassenen Insel zu sein!«
»Oder es gibt dort ein geheimes Portal, das zurück in die Zivilisation führt«, witzelte Lilith. »Und deswegen ist kein Kind mehr zurückgekommen.« Die beiden kicherten, während Eleanor und Tante Mildred fast synchron aufseufzten und die Köpfe schüttelten.
Sie ratterten an verschiedenen Souvenirläden vorbei, einem »Eiscafé Leichenstarre«, einem Süßigkeitenladen mit dem Namen »Trick or Treat« und einem Restaurant »Frankenstein«, an dem ein Schild für das Tagesgericht Rattengulasch mit Knochenpommes warb.
Eine eisige Windböe ließ Lilith urplötzlich frösteln. Seltsam, dabei hatte der Sturm doch mittlerweile nachgelassen. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch.
»Huhu, Frischfleeeeeisch«, erklang in diesem Moment eine Stimme, die so schaurig klang, dass Lilith eine Gänsehaut bekam.
Eine Frau, die ein zerrissenes, altertümliches Brautkleid trug, folgte ihrer Kutsche. Allerdings nicht neben, sondern über ihr! Alles an ihr war weiß – das flatternde Kleid, die Haare, das Gesicht – einzig ihre Augen waren von einem rauchigen Schwarz.
»Leckeres Frischfleisch für meine hungrige Seele!«, jubelte die weiße Frau und stieß ein bösartiges Lachen aus.
Sie näherte sich der Kutsche und streckte ihre krallenartigen Finger nach Lilith aus.
Lilith musste sich mit aller Kraft zusammenreißen, um der Geisterklaue nicht unwillkürlich auszuweichen. Das ist nicht real, erinnerte sie sich selbst, das ist nur für die Touristen! Trotzdem spürte Lilith eine eigenartige Kälte auf ihrer Haut, je mehr sich die durchscheinenden Krallen ihrem Gesicht näherten.
Nur noch wenige Zentimeter …
Lilith zuckte zusammen. Ihre Tante hatte neben ihr ein warnendes Zischen ausgestoßen.
Im selben Moment ließ die weiße Dame von ihnen ab. Lilith glaubte sogar, die Enttäuschung auf ihrem Gesicht sehen zu können. Die Geistergestalt drehte ab und verschwand im Nichts.
Erstaunt sah Lilith zu ihrer Tante, die sich ruckartig von ihr abwandte und nun den gleichen Zischlaut wie eben in Richtung des Pferdes ausstieß.
»Schhh, schhhh, alter Junge, los geht’s«, murmelte sie. Das Pferd trabte völlig unbeeindruckt weiter.
»Wie funktioniert das mit der weißen Frau?«, unterbrach Matt die seltsame Stille, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte. Anscheinend war die weiße Frau nicht nur Lilith erschreckend real vorgekommen.
»Es ist eine Filmaufnahme. Die einzelnen Sequenzen laufen über Projektoren und Lautsprecher, die an den Dächern der Häuser der ganzen Devilstreet angebracht worden sind«, erklärte Mildred ungeduldig. »So entsteht der Eindruck, dass ein Geist durch die Straße fliegt.«
»Und der eisige Wind?«, hakte Lilith nach.
»Lüftungsanlagen.«
»Schade, wenn man weiß, wie es funktioniert, ist der Gruseleffekt dahin«, meinte Eleanor bedauernd. Wahrscheinlich sah sie ihre inspirierende Arbeitsatmosphäre gerade davonfliegen wie die weiße Frau am Himmel.
Lilith dagegen konnten Tante Mildreds Worte nur wenig beruhigen. Auch wenn sie für alles eine logische Erklärung lieferten, so war Lilith dieses ganze Gruselspektakel nicht geheuer.
Die Kutsche bog in eine schmale Straße ein. Über den Nachthimmel zogen graue Wolkenfetzen und die Räder der Kutsche zerrissen das fahle Spiegelbild des Mondes, das sich in den Pfützen der Straße reflektierte. Sie hatten Matt und seine Mutter schon in ihrem neuen Zuhause abgeliefert. Beim Anblick des weit außerhalb des Dorfes gelegenen Holzhauses hatte Lilith Matt von ganzem Herzen bemitleidet. Dabei war es beileibe keine »Bruchbude«, wie Matt es so abfällig betitelt hatte, da Eleanor das Haus hatte renovieren lassen und es mit seinem neuen roten Anstrich einen schmucken Eindruck machte. Doch irgendetwas an dem Haus hatte Lilith unwillkürlich abgestoßen. Vielleicht waren es die kleinen dunklen Fenster des Obergeschosses, die die Eindringlinge wie bösartige Augen angestarrt hatten, oder die Tatsache, dass das Haus von einem Kreis toter Erde umgeben war, als ob sich nicht einmal Gras und Unkraut diesem Ort nähern wollten. Aber
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