Lilith Parker: Insel Der Schatten
und stürmte, ohne einen Blick zurückzuwerfen, aus dem Zimmer.
Wie von Sinnen rannte Lilith den Flur entlang.
Erst als sie atemlos innehielt und sich umsah, bemerkte sie, dass sie in Richtung des Dachbodens und nicht zu ihrem Zimmer gelaufen war. Ihre Knie zitterten. Lilith lehnte ihre Stirn gegen das kalte Fenster im Flur und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
War sie gerade eben tatsächlich vor einem lebenden Skelett gestanden? Oder hatte sie Halluzinationen? Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen.
»Denk nach, Lilith!«, murmelte sie. »Zuerst muss man die Fakten sammeln, dann kann man seine Schlüsse daraus ziehen. Das sagt Dad doch immer.«
Der Gedanke an ihren rationalen, stets beherrschten Vater beruhigte sie etwas. Was hätte sie in diesem Moment darum gegeben, dass er hier bei ihr wäre und sie sich ihm hätte anvertrauen können. Doch leider musste sie dies ohne seine vernünftigen Ratschläge überstehen. Was er wohl zu dieser Geschichte gesagt hätte?
Lilith sah ihn fast schon vor sich, wie er ihr aufmerksam zuhörte – die Ellenbogen aufgestützt und die Fingerspitzen federnd aneinandergelegt –, um dann mit sonorer Stimme zu antworten: »Wenn deine Vermutung stimmt, Lilith, und das Skelett tatsächlich eine von Regius’ Erfindungen ist, dann könnte er es mit Bewegungssensoren ausgerüstet und so programmiert haben, dass es auf die Bewegungen in seiner Umgebung reagiert. So etwas gibt es in jeder besseren Geisterbahn.«
Lilith lächelte. Ja, genau das hätte ihr Vater gesagt. Sie musste zugeben, dass das eine durchaus vernünftige Erklärung der ganzen Sache war. Trotzdem sträubte sie sich innerlich dagegen. Ein Gefühl sagte ihr, dass mehr dahintersteckte.
Aber vielleicht gab es eine Möglichkeit, der Sache auf den Grund zu gehen: Sicherlich war Regius der Typ Mensch, der für seine Arbeit lebte und mit Begeisterung darüber redete. Wenn Lilith ihn darauf ansprach, könnte sie ihn wahrscheinlich nach dem Skelett fragen, ohne dass er misstrauisch wurde. Wenn es tatsächlich nur eine seiner Erfindungen war, würde sie es vermutlich bald wissen. Lilith verzog gequält ihr Gesicht. Ein Gespräch mit dem unsympathischen Regius führen zu müssen weckte nicht unbedingt Vorfreude in ihr.
Sie steckte frustriert die Hände in ihre Taschen. Die Durchsuchung der Zimmer war kein großer Erfolg gewesen. Wenn man es genau nahm, hatte sie Matt kaum etwas zu berichten. Die seltsame Genesung der Winterbottom-Schwestern war bisher ihre einzige heiße Spur und das war nicht gerade viel.
Lilith spitzte die Ohren. Sprach da nicht jemand in Mildreds Arbeitszimmer? Sie war sich sicher, eine gedämpfte Stimme zu hören. Zuerst hatte sie so leise gesprochen, dass sie kaum wahrnehmbar war, doch jetzt gewann sie mit jeder Minute an Lautstärke, sodass sich Lilith nicht anstrengen musste, um die Stimme ihrer Tante zu erkennen. Somit hatte sich Lilith doch nicht getäuscht, als sie im Erdgeschoss eine Tür gehört hatte! Offenbar war ihre Tante vom Schwimmen zurückgekehrt.
»Natürlich weiß ich, dass du viel zu tun hast und deine Reise vorbereiten musst«, rief Mildred entnervt. »Immerhin versuche ich schon seit Liliths Ankunft vergeblich, dich zu erreichen!«
Lilith runzelte die Stirn. Telefonierte Mildred etwa mit ihrem Vater? Es überraschte sie, dass er überhaupt noch in London war. Als Lilith nach Bonesdale aufgebrochen war, stand sein genauer Abreisetermin zwar noch nicht fest, doch er sollte so schnell wie möglich nach Burma zu den Restaurierungsarbeiten der Tempelanlage stoßen. Da er sich seit ihrer Ankunft noch nicht bei ihr gemeldet hatte, war Lilith davon ausgegangen, dass er schneller als erwartet hatte abreisen können. Sie wollte nicht lauschen, doch ihre Füße trugen sie wie von alleine vor die angelehnte Tür des Arbeitszimmers.
»… hast du eine Ahnung, wie sehr uns das hier alle einschränkt? Wenn ich gewusst hätte, dass du Lilith nicht eingeweiht hast, hätte ich nie zugestimmt, sie bei mir aufzunehmen. Was du in deinem Brief verlangst, ist unmöglich, Jo!«
Wahrscheinlich meinte sie damit den Brief, den Lilith im Auftrag ihres Vaters Mildred sofort bei ihrer Ankunft hatte übergeben müssen. Lilith erinnerte sich, wie sich die Laune ihrer Tante schlagartig verschlechterte, nachdem sie ihn gelesen hatte. Anscheinend hatte Liliths Vater seine Schwester darin um etwas gebeten, das ihr ganz und gar missfiel. So war es nicht verwunderlich, dass sich die Unterhaltung der beiden
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