Lilith Parker: Insel Der Schatten
war in Liliths Augen nur allzu schnell bereit gewesen, ihre Nichte zu hintergehen.
»Mach dir wegen mir keine Umstände.« Lilith nahm nur nebenbei wahr, wie kalt und verletzend ihre Stimme klang. »Ich habe sowieso keine Lust, meinen Geburtstag zu feiern. Schon gar nicht mit diesen seltsamen Dorfkindern aus Bonesdale. Darauf kann ich echt verzichten.«
Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Schließlich zog Mildred ihre Hand zurück, stand auf und räusperte sich.
»Wie du meinst.«
Lilith war klar, dass sie Mildred mit ihren Worten vor den Kopf gestoßen hatte. Doch es war ihr gleichgültig. In diesem Moment hätte sie sowieso am liebsten ihre Sachen gepackt und wäre zurück nach London gefahren. Doch zu wem hätte sie gehen sollen? Ihre Haushälterin Clara mochte Lilith zwar in ihr Herz geschlossen haben, doch würde sie Lilith mit Sicherheit umgehend wieder zurück nach Bonesdale schicken. Und die Eltern ihrer Freundin Thea würden kaum anders reagieren. Sie hatte niemanden, zu dem sie sich hätte flüchten können. Lilith fühlte sich so einsam wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
»Lilith, hörst du mir überhaupt zu?«, drang die Stimme ihrer Tante wie aus weiter Ferne zu ihr. Überrascht sah Lilith auf.
Das warmherzige Lächeln in Mildreds Gesicht war verschwunden.
»Du musst etwas für mich erledigen!« Ihr Ton machte klar, dass es sich um einen Befehl und keine Bitte handelte. »Ich benötige dringend etwas aus dem Dorf. Ich habe dir die Adresse des Ladens und das Mittel, das ich haben möchte, notiert.«
Sie drückte Lilith einen Zettel in die Hand:
Crepusculelane 21,
beim »Eiscafé Leichenstarre« rechts abbiegen,
dann fünfte Querstraße links.
Alraunensaft.
Lilith zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe. Wozu um Himmels willen benötigte man Alraunensaft? Und dazu auch noch dringend?
»Mir ist sehr wichtig, dass du diesen Botengang alleine erledigst! Hast du das verstanden?« Mildred hatte jedes einzelne Wort derart überbetont, als ob sie mit einer Taubstummen sprechen würde – oder sie ihre Nichte für völlig plemplem hielt.
Lilith nickte unwillig.
»Ob du das verstanden hast?«
»Jaaa«, antwortete Lilith genervt.
»Ich brauche diesen Saft nämlich so schnell wie möglich und ich möchte nicht, dass du wieder herumtrödelst«, sagte Mildred schneidend. »Bald wird es dunkel und …«
»Ja, ja, ich weiß«, fiel ihr Lilith ins Wort. »Du musst mich vor diesen unglaublich schlimmen Gefahren hier in Bonesdale schützen.«
Sie schnappte sich ihre Jacke und rauschte an ihrer Tante vorbei. Dabei entging ihr nicht der überraschte Blick, den Mildred ihr zuwarf.
»Lilith, warte doch bitte mal …«, rief ihr Mildred hinterher, doch Lilith polterte die Stufen hinab und schlug heftiger als notwendig die Küchentür zu.
Die eiskalte Herbstluft ergoss sich wie ein Eimer Wasser auf ihr erhitztes Gesicht. Es war ein ungemütlicher Tag. Der Wind wühlte in den Bäumen, bis er auch das letzte verdörrte Herbstblatt gefunden und es mit sich in den grauen Himmel gerissen hatte. Gerade setzte ein leichter Nieselregen ein und sicherlich würde Lilith in ihrer dünnen Baumwolljacke nass werden, wenn sie nicht zurückgehen und ihr Regencape holen würde.
Und wenn schon!, dachte Lilith, schnappte sich ihr Fahrrad und trat kräftig in die Pedale. Sie wollte diese Erledigung so schnell wie möglich hinter sich bringen.
In der Devilstreet war, wahrscheinlich aufgrund des schlechten Wetters, auffallend wenig los und nur hier und da trieben sich ein paar gruselhungrige Touristen herum. Die Händler würden heute Abend wohl keine guten Umsätze machen. Gerade als Lilith am Restaurant »Frankenstein« vorbeiradelte, sah sie, dass ihr Matt auf einem brandneuen Mountainbike entgegenkam. Lilith verzog ihr Gesicht. Sie hatte im Moment absolut keine Lust, mit jemandem zu reden, und wäre lieber alleine geblieben, doch Matt hatte sie schon entdeckt und steuerte lächelnd auf sie zu.
»Hey!«, begrüßte er sie.
»Hey«, gab Lilith lustlos zurück und stieg von ihrem Rad ab.
»Die Spedition hat unsere Sachen geliefert«, platzte er sofort los und deutete stolz auf sein Mountainbike, das Liliths Damenrad noch verrosteter und uncooler erscheinen ließ. »Endlich hab ich wieder meinen ganzen Kram. Vor allem meinen Computer. Unglaublich, wie ich das Ding vermisst habe. Und Mom kann nun an ihrem echt antiken Schreibtisch aus dem Nachlass Graf Draculas ihr Buch weiterschreiben. Sie
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