Lilith Parker: Insel Der Schatten
»Doch meine Eltern hielten es damals für besser, mich so lange wie möglich mit ihren Problemen zu verschonen. Damit ich nicht unnötig leiden muss.«
»Das ist übel«, musste Lilith zugeben.
Sie kamen am »Eiscafé Leichenstarre« vorbei, in dem bei diesem nasskalten Wetter gähnende Leere herrschte, und bogen nach rechts in eine schmale Gasse ab. Der Nieselregen war stärker geworden und Liliths nasse Haare klebten an ihrer Stirn. Neidisch schielte sie auf Matts Regenjacke.
»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte sie, nachdem sie sich Matts Worte hatte durch den Kopf gehen lassen. »Selbst wenn ich bereit wäre, diese ganze Geheimnistuerei zu akzeptieren, ist die Beziehung zwischen mir und meiner Tante mittlerweile ziemlich verfahren.«
»Wahrscheinlich braucht ihr nur etwas Zeit, um miteinander warm zu werden«, meinte Matt. »Wenn ich meinen Vater in den Ferien besuche, dauert es auch immer ein paar Tage, bis wir uns wieder richtig verstehen. Und ihr habt euch immerhin gerade erst kennengelernt.«
»Vielleicht hast du recht«, räumte sie ein, hätte es aber am liebsten sofort wieder zurückgenommen, als sie Matts besserwisserisches Grinsen sah.
»Dir ist es vielleicht noch nicht aufgefallen, aber ich habe sehr oft recht!« Er ließ den Lenker seines Fahrrads los, um in einer selbstzufriedenen Geste seine Fingernägel zu betrachten. Leider wurde dieser Effekt etwas getrübt, da sein Fahrrad auf dem nassen Kopfsteinpflaster zur Seite rutschte und scheppernd auf dem Boden landete. Mit besorgter Miene untersuchte er den Lack seines kostbaren Rades auf irgendwelche Kratzspuren.
Nun konnte sich Lilith ein breites Grinsen nicht verkneifen. »Wie heißt es so schön: Hochmut kommt vor dem Fall. Bei dir kann man das wohl wörtlich nehmen.«
»Sehr witzig«, murrte Matt.
Lilith blieb am Ende einer düsteren Sackgasse stehen. »Ich glaube, wir haben uns verlaufen.« Sie drehte sich suchend um. »Da war überhaupt keine fünfte Querstraße, oder?«
»Natürlich war da eine.« Matt deutete irgendwo nach hinten in das Gewirr der schmalen Seitenstraßen.
Sie gingen wieder zurück und nun entdeckte auch Lilith den von zwei dicht beieinanderstehenden Häuserzeilen zusammengepressten Weg, so schmal, dass man nur hintereinander laufen konnte. Die Giebel der Häuser über ihnen berührten sich fast und das Tageslicht konnte kaum nach unten dringen. Lilith versuchte, das Ende der Gasse zu erspähen, doch es war wie der Blick in einen Tunnel, an dessen Ende die Dunkelheit lauerte. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch drangen sie tiefer in das Herz Bonesdales ein.
Mit ihren sperrigen Rädern stolperten sie durch ein Gewirr kleiner Wege, die kreuz und quer abzweigten und über ausgetretene Steintreppen mal nach oben, mal nach unten führten. Oft waren die Gassen schmal wie Rinnsale, in denen sich das Regenwasser schlängelte. So war es nicht verwunderlich, dass Matt und Lilith sich allzu oft in einer Sackgasse wiederfanden oder ihr Weg plötzlich vor dem gewölbeartigen Kellereingang eines der Häuser endete. Niemand war auf den Straßen zu sehen und fast hatte Lilith den Eindruck, sie irrten durch ein menschenleeres Labyrinth, dem sie nie wieder entkommen konnten. Mehr als ein Mal wünschte sich Lilith, ihre Tante hätte ihr eine etwas genauere Wegbeschreibung mitgegeben. Dass die meisten Straßenschilder unleserlich waren oder sogar fehlten, vereinfachte die Sache nicht gerade. Lilith war froh, Matt dabeizuhaben, der einen guten Orientierungssinn besaß und ohne den sie sich wahrscheinlich verlaufen hätte.
Umso größer war die Enttäuschung der beiden, als sie die Crepusculelane endlich gefunden hatten.
Unter der angegebenen Adresse gab es nur eine Reihe uralter Häuser, an denen der Putz abbröckelte und die Holztüren in ihren Angeln vermoderten. Ein muffiger Geruch hing in der Luft. Einige der Häuser besaßen im Erdgeschoss zwar großzügige Schaufenster, doch die meisten von ihnen waren eingeschlagen oder schon so blind, dass man nicht einmal einen Blick in den dahinterliegenden Raum werfen konnte. Hier war mit Sicherheit schon seit Ewigkeiten nichts mehr verkauft worden.
»Schau noch mal auf den Zettel!«, meinte Matt. »Vielleicht sind wir in der falschen Gasse.«
»Crepusculelane 21 – wir sind absolut richtig. Laut Tante Mildred sollte es hier eine Apotheke oder so was geben, in der ich diesen Alraunensaft bekommen kann.«
»Hier wirst du den auf jeden Fall nicht kaufen können«, stellte Matt
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