Lilith Parker: Insel Der Schatten
Tag, Lilith.«
»Hallo«, antwortete sie mit heiserer Stimme.
Anders als Lilith vermutet hatte, war der Mann jung, obwohl der gleichmütige, allwissende Ausdruck in seinen Augen diesen Eindruck Lügen strafte.
Es waren diese Augen, von denen Lilith kaum ihren Blick abwenden konnte. Auf unheilvolle Weise kamen sie ihr bekannt vor, obgleich sich Lilith sicher war, dass sie dem Mann noch nie begegnet war.
Hilfe suchend sah sie zu ihrer Tante, die sich genau wie die anderen an den Tisch gesetzt hatte und mit einem entrückten Lächeln ununterbrochen ihren Tee umrührte.
»Wie unhöflich von mir«, durchbrach der Mann die Stille und stand auf. In seinem perfekt sitzenden, matt schimmernden Anzug wirkte er in Mildreds schlichter Küche merkwürdig deplaziert. »Ich habe mich dir noch gar nicht vorgestellt.«
Er kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Erst als Lilith mit dem Rücken an die Tür stieß, bemerkte sie, dass sie unwillkürlich hatte zurückweichen wollen. Der Mann blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie sein schweres Aftershave riechen konnte. Doch da war noch ein anderer Geruch, den das teure Rasierwasser nicht vollständig überdecken konnte. Er verursachte ihr Übelkeit.
Der Mann streckte ihr seine wohlgeformte Hand entgegen. »Ich bin Mister Nekrobas. Du kannst aber Elia zu mir sagen, so nennen mich meine … Freunde«, sagte er mit einem kurzen Stocken. Dann wieder dieses dünnlippige Lächeln. Lilith spürte, wie sich die Härchen auf ihrem Arm aufstellten.
Wie hypnotisiert und nicht in der Lage, etwas zu sagen, starrte sie in die Augen ihres Gegenübers. Die Iris war von so hellem Grau, dass sie fast farblos wirkte und die Pupillen wie große schwarze Käfer schillerten. Lilith glaubte zu spüren, wie sie über ihr Gesicht krabbelten, sich in ihre Augen bohrten und versuchten, in ihre Seele einzudringen.
Schnell wandte sie den Blick ab und trat zur Seite. Erst als sie sich einige Schritte von ihm entfernt hatte und in der Mitte der Küche stand, hatte sie das Gefühl, wieder frei atmen zu können.
»Und woher kennen Sie meinen Namen, Mister Nekrobas?«
»Sag doch bitte Elia.«
Lilith erwiderte nichts und kniff ihre Lippen zusammen.
»Deine Tante hat mir von dir erzählt. Als du hereingekommen bist, wusste ich sofort, dass du ihre Nichte sein musst. Eure Ähnlichkeit ist einfach frappierend, nicht wahr?«
»Wir sehen uns kein bisschen ähnlich«, gab Lilith trotzig zurück.
Erstaunt hob er eine Augenbraue. Er schien unangenehm überrascht. Es war, als ob er Lilith einem Test unterzogen hätte, den sie augenscheinlich nicht bestanden hatte.
In Sekundenschnelle hatte sich Nekrobas wieder gefasst. Gemächlichen Schrittes verringerte er den Abstand zu Lilith.
»Deine Tante war so nett, mir Tee und Kuchen anzubieten. Möchtest du dich nicht zu uns setzen?« Er machte eine einladende Handbewegung in Richtung des Tisches, als ob er der Herr des Hauses und Lilith der Gast wäre.
»Nein danke«, lehnte sie sein Angebot ab.
Nun stand er wieder direkt vor Lilith. Sie wollte zurückweichen, doch sie konnte sich nicht bewegen.
Alles in ihr rebellierte. Mit jeder Faser ihres Körpers fühlte sie, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Plötzlich wusste sie, was – oder besser gesagt wer – Hannibal so sehr in Angst versetzt hatte. Es war dieser Mann.
»Mildred?«, rief sie mit erstickter Stimme.
Dieses Mal sah ihre Tante auf. Für einen Moment trat ein besorgter Ausdruck auf ihr Gesicht und ihre Stirn legte sich in Falten.
»Lilith!« Mildred wollte aufstehen, doch Nekrobas hob seine Hand, als streiche er ihr aus der Ferne über die Stirn.
»Es ist alles in Ordnung, Mildred«, sagte er zu ihr.
Mildred blinzelte verwirrt. Dann legte sich wieder ein entrücktes Lächeln auf ihre Lippen. Sie sank auf ihren Stuhl zurück und nippte an ihrem Tee.
Immerhin ließ Nekrobas nun von Lilith ab. Er steckte die Hände in die Taschen seines Anzugs und schlenderte zum Fenster.
»Ich wollte gerade vorschlagen, dass wir zusammen ein Spiel spielen. Ich mag Spiele. Im öden Einerlei der Zeit versüßen sie einem die Existenz und man lernt viel über seine Mitspieler.« Gedankenverloren fuhren seine Finger über die Narbe an seiner Lippe. »Und du, Lilith? Magst du Spiele?«
»Manchmal.«
»Ja, du hast recht«, stimmte er ihr zu. »Es macht nicht immer Spaß zu spielen. Man muss einen würdigen Gegner haben.« Er wandte sich so abrupt zu ihr um, dass Lilith erschrocken zusammenfuhr. »Bist
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