Lilith Parker: Insel Der Schatten
recht. Lilith trug das Amulett mittlerweile Tag und Nacht um den Hals. So konnte sie wenigstens sicher sein, dass sie es nicht verlegte oder es in die falschen Hände geriet.
»Einen kleinen Moment«, unterbrach Clara ihr Gespräch. »Da ist ein Herr von der Spurensicherung, der mit mir sprechen möchte.« Clara legte das Telefon zur Seite.
Zu Liliths Bedauern konnte sie nur entferntes Stimmengemurmel wahrnehmen.
»Meine Güte, das wird ja immer mysteriöser«, stöhnte Clara, nachdem sie wieder zum Hörer gegriffen hatte.
»Was ist denn?«, fragte Lilith neugierig.
»Sie haben nichts gefunden. Keinen Fingerabdruck, keine Haare, keinen Fussel, noch nicht einmal Aufbruchsspuren am Tresor. Als ob ein Geist hier eingebrochen wäre!«
Bei ihren Worten lief Lilith unweigerlich ein Schauer über den Rücken. Clara konnte schließlich nicht ahnen, dass Lilith seit ihrer Ankunft in Bonesdale mehr mit Geistern, Halloween und Spukgeschichten zu tun hatte, als ihr lieb war.
»Ein Einbruch, bei dem nichts gestohlen wurde, hat man so etwas schon mal gehört?«, ereiferte sich Clara. »Da haben sie die Alarmanlage und all die Sicherheitsvorrichtungen überwunden, haben sich mit dem Öffnen des Tresors abgemüht und nichts mitgenommen. Seltsam, oder?« Sie lachte auf. »Ein Haus voller Schätze und die Diebe lassen alles liegen.«
»Ja, das ist wirklich seltsam«, stimmte Lilith ihr einsilbig zu.
Nachdem Lilith mit dem Versprechen, sich bald wieder bei Clara zu melden, aufgelegt hatte, saß sie einige Zeit nachdenklich an Mildreds Schreibtisch.
Konnte es sein, dass dieser mysteriöse Einbrecher etwas ganz Spezielles gesucht hatte? Etwas, das sich zum Zeitpunkt des Einbruchs gar nicht mehr im Haus befunden hatte? Unweigerlich griff Lilith nach dem Amulett um ihren Hals.
Dieses Mal war es jedoch nicht in der Lage, ihr Trost zu spenden. Das Gefühl, dass sich ihr etwas unaufhaltsam näherte, etwas Dunkles und Böses, raubte ihr fast den Atem.
»Def. Dämon, allgemein: Die Dämonen stammen aus dem Schattenreich, ein Ort, der so unwirtlich und grauenerregend ist, dass selbst die Dämonen ihm zu entkommen versuchen. Vieles, was die menschliche Mythologie im Allgemeinen über Dämonen überliefert, ist unzutreffend. Zwar gelten sie zu Recht als gefährliche, äußerst mächtige Wesen, denen ein Mensch nicht das Geringste entgegenzusetzen hat, doch das griechische Ursprungswort »Daimónion« wurde in der Bedeutung »Geist der Abgeschiedenen« verwendet. Daraus kann man folgern, dass der Begriff Dämon einst eher neutral interpretiert wurde. Die alten Schriften geben jedoch keinen Hinweis darauf, warum die Dämonen in späteren Zeitaltern plötzlich als Unheilstifter, Krankheitsbringer und personifizierte Teufel gesehen wurden. Laut meiner Recherchen ist es nur sehr machtvollen Dämonen möglich, in unsere Welt zu wechseln. Sie erscheinen als Malecorax, als eine Art Todeskrähe, die ein unnatürlich menschliches Verhalten an den Tag legt und von der man sich unbedingt fernhalten sollte. Nur ein einziger Dämon, der sogenannte Erzdämon, besitzt die Macht, auch in menschlicher Gestalt in unserer Welt zu erscheinen. In der Schrift wird ausdrücklich vor ihm gewarnt. So schreibt der Verfasser: »Wo Erbarmen ist, ist er die Rache. Wo Friede ist, ist er die Gier nach Macht. Wo Liebe ist, ist er der Hass. Der Himmel erbarme dich deiner, oh mein fremder Freund, der du dem Erzdämon gegenübertrittst. Sein Schatten legt sich über deinen, er verschlingt dein Ich mit Haut und Haar, dein Ende ist gekommen.«
aus »Untote von A–Z. Umfassendes Nachschlagewerk paranormaler Wesen« von Professor Albertus von Knüttelsiel,
erschienen 1969
D ie Tage wurden spürbar kälter. Wenn Lilith morgens zur Schule radelte, verwandelte die kühle Morgenluft ihren Atem in kleine Wolken und sie trug Handschuhe und einen Schal, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. St. Nephelius wurde mit jedem Tag mehr vom herannahenden Winter erobert.
Als Lilith an diesem Tag von der Schule nach Hause kam, hatte es in der Nacht einen weiteren Temperatursturz gegeben. Egal, wie warm man eingemummelt war, der Wind kroch einem unter die Kleider und legte einem seine eisigen Finger auf die Haut. Selbst Miss Tinkelton hatte eingeräumt, dass es für die Jahreszeit viel zu kalt sei, und ihnen erlaubt, die Pausen im Schulhaus zu verbringen. Es war wohl einer der wenigen Tage, an denen die Kinder am Ende des Schultages nur widerstrebend das Schulhaus
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