Lilith Parker: Insel Der Schatten
falsche Fährte. Um etwas über die Legierung und das verwendete Lötverfahren herauszufinden, wäre zwar eine Röntgenfluoreszensanalyse notwendig …«
Lilith hatte noch nie von solch einer Analyse gehört, verzichtete jedoch darauf, De Vries danach zu fragen und das Thema zu vertiefen.
»Aber ich schätze, dass dieses Schmuckstück sehr viel später entstanden ist«, fuhr De Vries fort. »Siehst du diese sanft geschwungenen Linien der Goldspeichen und diese filigranen Silberfäden, die in sich verdreht sind? Selbst mit sehr viel Zeit und dem damals besten Handwerksgerät hätte dies im Frühmittelalter kein Goldschmied fertigen können.« Er nickte wie zu seiner eigenen Bestätigung. »Wenn nicht gerade der Teufel mit im Spiel gewesen ist, eine unmögliche Sache!«
Lilith hörte ihm fasziniert zu und beugte sich neugierig über den Tresen, sodass ihr Kopf fast mit dem von De Vries zusammenstieß. »Und der schwebende Bernstein?«, fragte sie.
De Vries winkte ab. »Wahrscheinlich eine optische Täuschung. So etwas ist nicht selten. Nach dem Schleifen wird der Stein angebohrt und feiner Draht darin befestigt, der ihn quasi unsichtbar in der Mitte des Zepters hält.«
Lilith verzog zweifelnd das Gesicht. Sie war sich sicher, dass ihr ein Draht, und sei er noch so fein und kunstvoll angebracht, aufgefallen wäre.
»Der untere Abschluss des Zepters dagegen scheint mir ungewöhnlich. Hier – diese kleine, kaum erkennbare Öffnung mit den Ösen. Als könnte man daran etwas befestigen«, murmelte De Vries nachdenklich. »Als ob ein Teil des Schmuckstücks fehlt.«
Er sah zu Lilith auf. »Darf ich?« Seine Hand griff nach dem Amulett.
Lilith nickte. »Natürlich, sehen Sie es sich ruhig genauer an.«
In der letzten Sekunde, noch ehe De Vries das Amulett mit den Fingerspitzen berührte, wusste Lilith, dass dies ein Fehler gewesen war. Doch sie konnte es nicht mehr verhindern. De Vries zuckte zusammen, als würde ihn ein eisiger Schauer durchlaufen, und der Raum schien von einem Moment auf den anderen dunkler geworden zu sein. Auch De Vries’ Gesichtsausdruck veränderte sich in merkwürdiger Weise. Die gutmütigen Lachfältchen des Alten waren verschwunden, ebenso die detektivische Begeisterung des Goldschmiedefachmanns, die Lilith eben noch an ihm wahrgenommen hatte. Sein Gesicht glich nunmehr einer unheimlichen Fratze. Er starrte wie hypnotisiert auf das Amulett, als ob er es in diesem Moment zum ersten Mal sehen würde.
»Es ist wunderschön«, flüsterte er.
Er hielt die Kette fest in seiner Hand, darunter baumelte der Anhänger unruhig vor und zurück.
Lilith blinzelte verwirrt. Sie hätte schwören können, dass sich der Bernstein im Innern des Zepters zu verändern begann. Rote Wolken durchzogen das Innere des Steins, so als ob er bluten würde. Ehe Lilith es verhindern konnte, schloss sich De Vries’ Faust um das Amulett.
Er fuhr mit einem solchen Ruck herum, dass Lilith zusammenzuckte. »Verkaufst du es mir?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, ließ De Vries die Kette in seiner Jackentasche verschwinden und schritt eilig zur Kasse. »Wie viel möchtest du dafür haben? Sag es mir, ich bezahle jeden Preis!«
»Das … das Amulett ist nicht zu verkaufen«, erwiderte Lilith irritiert. »Wissen Sie nicht mehr? Es gehört meinem Vater!«
»Stimmt«, erinnerte er sich. Der alte Mann lächelte plötzlich heimtückisch. »Das ist sogar noch besser! Denn weißt du was? Ich gebe dir die Kette einfach nicht mehr zurück!«
Lilith schnappte entsetzt nach Luft. Das konnte doch nicht sein Ernst sein.
»Wenn ich das meinem Vater …«, setzte Lilith an, doch sie wurde von De Vries unterbrochen.
»Wenn mich dein Vater fragt, werde ich sagen, du seist nie hier gewesen.« Er kicherte hinterlistig. »Er wird denken, dass du sein wertvolles Amulett verloren hast und zu feige bist, es zuzugeben.«
»Sie spinnen ja wohl!« Lilith funkelte ihn wutentbrannt an. »Sie können doch nicht ein fremdes Schmuckstück einstecken und behalten!«
Das würde Lilith auf keinen Fall zulassen. Sie musste irgendetwas tun! In einer schnellen Bewegung versuchte sie, über den Tresen in De Vries’ Jackentasche zu fassen, doch sie war zu langsam. Der alte Mann reagierte überraschend schnell. Er drehte sich seitwärts, packte Liliths Arm und quetschte ihn wie mit einem Schraubstock. Lilith musste ein Wimmern unterdrücken.
»Aber das können Sie doch nicht tun …«, wiederholte Lilith hilflos.
»Natürlich kann ich!« De
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