Lilith Parker: Insel Der Schatten
Vries’ bösartiges Grinsen ließ sie frösteln. »Wem, meinst du, wird man glauben – dir, dem kleinen, vorlauten Mädchen, oder mir, dem angesehenen Juwelier?«
»Ihnen«, flüsterte Lilith. Ihr Magen krampfte sich zusammen und ihr wurde übel vor Entsetzen.
Sie konnte doch nicht zulassen, dass ihr dieser Mann einfach das Amulett wegnahm. Mit Tränen in den Augen blickte sie zu Boden.
»Du solltest jetzt besser gehen!«, sagte De Vries kalt.
Lilith bewegte sich nicht vom Fleck. Wenn sie jetzt ging, würde sie das Amulett nicht mehr zurück in den Tresor legen können und sie musste ihrem Vater den Diebstahl beichten. Und nicht nur das. Sie würde das Amulett nie wiedersehen!
Sie hatte diesem netten alten Herrn vertraut. Das war so ungerecht! Lilith sah auf und spürte, wie sie eine Welle des Zorns überrollte. Dunkle Punkte begannen vor ihren Augen zu tanzen. Es war das Amulett ihrer Mutter, der einzige Schlüssel zu ihrer Vergangenheit. Das konnte er ihr nicht einfach wegnehmen! Lilith wurde unglaublich heiß, als hätte sie hohes Fieber. Sie würde alles tun, um das Erbstück wieder zurückzubekommen. Alles, einfach alles … Die Punkte vor ihren Augen schienen zahlreicher zu werden und sich zu verdichten. Plötzlich war es, als wäre die Welt um sie herum in einen schwarzen Nebel gehüllt. Alle Geräusche waren verschwunden, die klassische Musik, der Autolärm der Straße, ja, selbst ihr eigenes ängstliches Keuchen waren einer absoluten Stille gewichen. Stattdessen hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf, die nicht ihre eigene war.
Du bist stärker als er!
Ich bin nur ein Kind, widersprach Lilith in Gedanken.
Du bist stärker, beharrte die Stimme, du musst ihm nur sagen, was du willst!
» Ich will sofort das Amulett zurückhaben!«, flüsterte Lilith kaum hörbar.
De Vries wandte sich um.
Er sagte irgendetwas, doch Lilith konnte ihn nicht verstehen, sie sah nur, wie sich seine Lippen bewegten und er sie fassungslos anstarrte. Fast glaubte Lilith so etwas wie Angst in seinen Augen erkennen zu können.
Sag ihm, was du willst, Lilith, und du wirst es bekommen!
Lilith sah De Vries entschlossen in die Augen. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, schoss ihre Hand hervor und klammerte sich an De Vries’ Arm.
»Geben Sie mir mein Amulett zurück!«, hörte sie ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne. »Ich will das Amulett!«
Der Juwelier wurde bleich. Er schwankte und klammerte sich am Tresen fest, doch Lilith ließ ihn nicht aus den Augen. Quälend langsam wanderte seine Hand in seine Jackentasche und zog die Kette hervor. Er schob sie über den Tresen.
Lilith fiel ein Stein vom Herzen. Sie atmete erleichtert auf. Im selben Moment verschwand der schwarze Nebel vor ihren Augen so urplötzlich, wie er gekommen war, auch die Geräusche um sie herum nahm sie wieder wahr. Erst jetzt registrierte Lilith, dass der Boden unter ihren Füßen vibriert hatte, und die Scheiben der Vitrinen gaben immer noch ein leises Klirren von sich. Der sorgsam angebrachte Schmuck war von den Auslagen gerutscht. Lilith bekam eine Gänsehaut. Was ging hier nur vor? War sie das etwa gewesen?
Lilith wusste nur noch eines: Sie wollte hier weg, raus aus diesem Geschäft und nach Hause. Kaum dass sie das warme Metall des Amuletts in ihrer Hand spürte, drehte sie dem verstört dreinblickenden Juwelier den Rücken zu und rannte davon.
Völlig in Gedanken versunken trat Lilith aus dem Wald heraus. Matt erwartete sie bereits vor dem Haus und winkte ihr von Weitem zu. Lächelnd erwiderte sie die Geste und blieb einen Moment lang stehen. Sie schob den rechten Ärmel ihrer Jacke hoch und betrachtete ihr Handgelenk. Die blauen Flecke mit De Vries’ Fingerabdrücken waren schon längst verblasst. Wenn sie nicht gewesen wären, hätte sich Lilith damals einreden können, dass sie sich alles nur eingebildet und es im Grunde nur ein etwas heftigeres Gespräch mit dem Juwelier gegeben hatte.
De Vries hatte sich zu Liliths Überraschung nicht mit ihrem Vater in Verbindung gesetzt. Jedenfalls hatte ihr Vater kein Wort darüber verlauten lassen. Lilith seufzte. Anstatt Antworten zu bekommen, war sie mit diesem Besuch auf weitere Rätsel gestoßen. Denn wie war es möglich, dass sich Jacob de Vries so plötzlich verändert hatte, nachdem er das Amulett in Händen hielt? Lilith konnte es sich beim besten Willen nicht erklären. Wenn sie nur eine Möglichkeit finden könnte, die Runen auf dem Amulett zu übersetzen … Doch immerhin hatte die
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