Lilith Parker: Insel Der Schatten
roten Teppich fast völlig verschluckt. In der Mitte des Raums stand ein junger Mann vor einem gläsernen Tresen, hinter dem Jacob de Vries gerade ein kleines Päckchen verschnürte. Der Mann trug einen abgewetzten Anzug und seine etwas zu langen Haare fielen ihm immer wieder ins Gesicht.
»… und Sie versprechen mir, die Raten pünktlich zu zahlen, William?«, fragte De Vries gerade mit ernster Stimme. »Sie wissen, dass ich eigentlich eine höhere Anzahlung für einen so teuren Ring verlangen müsste?«
Der Mann nickte heftig. »Ich werde Sie nicht enttäuschen. Sie bekommen die erste Rate gleich nächste Woche, versprochen«, beteuerte er und lächelte glücklich. »Bis dahin werde ich mit Sophie sicherlich schon verlobt sein, ist das nicht wunderbar?«
Liliths Blick fiel auf die Schuhe des Mannes. Sie waren abgenutzt und die rechte Sohle löste sich vom Leder. Kein vernünftiger Mensch würde solch einem Mann einen Kredit gewähren.
De Vries überreichte ihm das Päckchen. »Dann drücke ich Ihnen die Daumen, William!«
Der junge Mann war so glücklich, dass er beim Verlassen des Ladens regelrecht an Lilith vorbeischwebte.
De Vries rückte die Jacke seines Tweed-Anzuges zurecht, faltete die Hände auf dem Tresen und wandte sich Lilith zu.
»Was kann ich denn für dich tun, junge Dame?«, fragte er freundlich.
»Ich bin Lilith, die Tochter von Joseph Parker«, stellte sie sich vor. »Ich war schon einige Male bei Ihnen. Bei unserem letzten Besuch hatte mein Vater sie darum gebeten, die Echtheit eines Maya-Armreifs zu überprüfen.«
De Vries musterte Lilith und legte für einen Moment nachdenklich die Stirn in Falten.
»Natürlich!« Er lächelte erfreut. »Jetzt erinnere ich mich. Wie geht es deinem Vater? Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen!«
»Danke, ihm geht es gut«, antwortete Lilith. Sie trat näher an den Tresen heran. »Ich interessiere mich ebenfalls für Geschichte und Archäologie und möchte unbedingt in die Fußstapfen meines Vaters treten«, begann sie mit ihrer einstudierten Geschichte und hoffte, dass De Vries das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte. Sie war noch nie eine gute Lügnerin gewesen. »Deswegen hat er sich für mich eine kleine Aufgabe ausgedacht, die ich lösen soll.«
»Ich verstehe.« De Vries’ Augen blitzten interessiert auf. »Ein archäologisches Rätsel?«
Lilith nickte. »Genau. Er hat mir ein Amulett gegeben, von dem ich das ungefähre Alter und das Herkunftsland bestimmen soll. Nur leider«, Lilith stockte verlegen, »ist das schwieriger, als ich gedacht habe. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir einen Tipp geben können.«
Lilith bemerkte sofort, dass der alte Mann Feuer und Flamme war. »Natürlich kann ich dir helfen! Aller Anfang ist schwer, besonders wenn es um die Archäologie geht.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Und keine Sorge – dass ich dir helfe, bleibt selbstverständlich unser Geheimnis!«
Lilith atmete erleichtert auf. Genau diese Reaktion hatte sie erhofft. Sie zog das Amulett aus ihrer Jackentasche hervor und legte es auf den Tresen. Nervös beobachtete sie De Vries, wie er sich ein Vergrößerungsglas ins Auge klemmte und sich über das Schmuckstück beugte, ohne es jedoch zu berühren. Wahrscheinlich würde er ihr in wenigen Sekunden etwas über ihre Mutter oder deren Familie verraten können. Oder Lilith würde wenigstens einen Anhaltspunkt bekommen, wo sie weitersuchen konnte. Ein so seltenes und fremdartiges Schmuckstück, das sicherlich schon einige Hundert Jahre alt war, musste in Fachkreisen bekannt sein, da war sich Lilith sicher.
»Interessant. Außergewöhnlich, wirklich ganz außergewöhnlich«, murmelte der Juwelier vor sich hin. Er sah auf. »Dein Vater hat dir keine leichte Aufgabe gestellt, Lilith.«
»Warum?«, fragte sie atemlos.
»Die Symbole sind Runen, was auf ein hohes Alter des Schmuckstücks hindeutet.« Er lächelte sie an. »Weißt du, was das Wort Runen bedeutet?«
Lilith schüttelte den Kopf. Auch wenn sie die Runen als solche erkannt hatte, so hatte sie sich noch nie näher damit befasst.
»Es bedeutet Geheimnis oder Flüstern. Runen wurden ursprünglich als Zauberformeln verwendet. Dies hier sind angelsächsische Runen aus dem jüngeren Futhark. Diese Runenreihe wurde zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert verwendet, also zur Zeit des Frühmittelalters.« De Vries begutachtete erneut das Amulett und schnalzte nachdenklich mit der Zunge. »Doch die Runen führen uns wohl auf eine
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