Lillys Weg
erotische Frau in ihr war erweckt und hatte einen guten Platz. Irgendwann würde wieder ein Mann in ihrem Leben sein. Aber das hatte Zeit. Sie hatte Sex auf Vorrat getankt, es würde kein Notstand ausbrechen. Das war es nicht. Dieser Mann hatte eine intensive Zeit mit ihr geteilt, sie hatten nicht nur Körpersäfte ausgetauscht, sondern auch gemeinsam Grenzen überschritten und sich aufeinander eingelassen, wenn auch nur sexuell. Und jetzt verschwand er einfach so? Ohne ein Wort? AuÃerdem gab es noch viele Fragezeichen. Was sollte dieses Wochenende? War das Paolos Art, seine Affären zu beenden? Oder war dieses Treffen ein Wunsch seiner Frau gewesen? Eine Seite in ihrem Leben war aufgeschlagen worden und nun fehlte der Abschluss. Lilly sprach, dachte, sah und schrieb in Bildern. Sie war gewöhnt, dass Geschichten auch ein Ende hatten, dass sie irgendwo einen Punkt machen und sie dann ins Archiv legen konnte. Und ohne dass sie ihrem Alltagsbewusstsein erlaubte zu bemerken, dass sein sang- und klangloses Verschwinden schmerzhaft war, wartete sie auf ein Zeichen, eine Antwort von Paolo.
Nach einer Weile, als sie bereit war, mit Ralf darüber zu sprechen, sah sie die Wortkombination âsang- und klanglosâ bildlich vor sich und erzählte ihm, dass die Begegnung mit Paolo wie ein Lied war, das mitten in einer Strophe abgebrochen wurde.
Kurz bevor Wien seinen jährlichen Schichtwechsel vornahm, die Wiener aus der sommerlichen Stadt flüchteten und sie fast vollständig den Touristen aus aller Welt überlieÃen, rief Paolo an.
âIch muss dich sehen, bitte kannst du ins Demel kommen?â Die alte Hofkonditorei Demel war einer der Orte in der Innenstadt, an denen âmanâ sich traf. Es war kein Platz, an dem sie Gefahr laufen musste, die alte Obsession würde wieder auftauchen. Paolos Stimme hatte auch ganz anders geklungen. Hier sprach nicht der Sexmaniak, sondern ein Mann, der in Sorge war.
Lilly hatte ihn die meiste Zeit ihres Lebens nur nackt gesehen. Der Spruch âKleider machen Leuteâ traf auf Paolo zu. Er trug einen schwarzen, maÃgeschneiderten Anzug und sah elegant und auf seine eigene Weise gut aus. Sie schwiegen, bis der Kaffee und die Mohnpotize, eine Spezialität des Hauses, kamen, und Lilly versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Er hatte sein übliches Pokerface aufgesetzt, aber seine Augen waren traurig.
Für einen Augenblick tauchten aneinandergereiht wie auf Âeiner Perlenkette die besten gemeinsamen Sexszenen vor ihr auf, aber sie schienen schon in weiter Ferne und lieÃen ihren Unterleib unberührt. Sie spürte nur Dankbarkeit. Noch waren Liebe und Sex nicht miteinander verbunden. Sie wusste, dass in ihrem Inneren das eine das andere fast ausschloss. Man liebte, oder man war geil. Ihre Beziehungen im Erwachsenenalter waren fast alle zahm und ziemlich vernünftig gewesen. Sie nahm Paolos Hand und sagte nur: âDanke für alles.â Sie spürte Zärtlichkeit für den Menschen, nicht mehr für den Mann.
Paolo hatte plötzlich Tränen in den Augen. âBitte hilf mir, die Tochter einer Frau, die mir seit vielen Jahren sehr nahesteht, ist magersüchtig.â Lillys Augen weiteten sich vor Ãberraschung. Sie hatte nicht gewusst, dass es neben Kristina noch eine andere Frau gab, die ihm auch wichtig war.
âEs ist nicht so, wie du denkstâ, beantwortete Paolo ihre nicht laut gestellte Frage. âIn einer Zeit, als es mir schlecht ging, weil Kristina mich für ein ganzes, langes Jahr verlassen hatte, war Ria einfach für mich da. Sie hat mich im Arm gehalten, wenn ich geweint habe, sie hat mir eine Hühnersuppe gekocht, wenn ich besoffen war, damit ich meinen Schmerz nicht spüren musste, und als ich immer extremer und destruktiver wurde, ging sie zu Kristina und hat ihr von mir erzählt. Und jetzt hat sie mich zum ersten Mal um etwas gebeten. Larissa, die ich seit ihrer Kindheit kenne, ist achtzehn, und ich mache mir groÃe Sorgen um sie.â
Lilly war selber mit fünfzehn magersüchtig gewesen. Sie konnte es auf den Fotos sehen. Damals gab es im Bregenzerwald diesen Namen nicht. Aber die Gefühle, die dazugehörten, waren ihr vertraut. Mager- und Esssucht war eines der Themen, mit denen sie sich journalistisch immer wieder beschäftigte.
Als Paolo mit der Telefonnummer einer der besten Spezialistinnen des Landes wieder ging, wusste Lilly, dass eine Freundschaft begonnen
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