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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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Bezirk. Ihr Stammtisch war immer für sie reserviert und Lefti, der Besitzer, der eigentlich Lefteris hieß, gab ihn erst nach neunzehn Uhr her, wenn klar war, dass die beiden jetzt wahrscheinlich nicht mehr kommen würden.
    Lilly war glücklich und dankbar für Ralfs sexuelle Orientierung. Gleichzeitig litt sie mit ihm, weil es immer noch Menschen gab, die Homosexualität für eine perverse Neigung hielten, die man abschaffen sollte. Das Gesetz hatte ihnen bis vor Kurzem recht gegeben und sexuelle Handlungen zwischen Männern als Unzucht bezeichnet und bestraft. Die Tatsache, dass das Mann-Frau-Thema in ihrer Beziehung keine Rolle spielte, erleichterte sie. Ralf konnte sie ohne Nebengedanken innig umarmen, sich in seine Arme werfen, wenn sie unglücklich war, und mit ihm über die Männer reden, in die sie gerade verliebt war. Einmal im Monat gingen sie ins Theater. Sie war eine Kulturbanausin, wie Ralf schon am Anfang ihrer Freundschaft festgestellt hatte, und er suchte die Stücke aus.
    Außerdem reiste Lilly viel. Eine der Besonderheiten des Magazins war der erlebnisorientierte Zugang in der Berichterstattung. Sie hatte darauf bestanden, weil sie am lebendigsten schrieb, wenn sie die Geschichten mindestens teilweise selbst erlebt hatte. Ralf hasste es, zu reisen. Er reiste lieber im Kopf und bewegte sich über die Stadtgrenzen freiwillig nur dann hinaus, wenn es unumgänglich war. München war eine Ausnahme. Dort, in der Wohnung von Chris, seinem Lebensgefährten, fühlte er sich zu Hause, das fiel nicht unter Reisen.
    Ansonsten hielt er es mit Winston Churchill: No sports. Lilly dagegen liebte Sport. Sie schwamm, sie wanderte und fuhr Ski. Sie war so aufgewachsen. Ihre Mutter hatte immer Trost bei der Bewegung in der Natur gefunden.
    Ralf und sie hatten manchmal Diskussionen darüber, weil ihre Reisen das Budget unnötig belasteten. „Warum kannst du nicht einfach jemanden in Wien interviewen oder nach München fahren? Du setzt dich in den Zug und bist am nächsten Tag wieder da.“ Er kannte die Antwort schon und wusste ohnehin, dass er keine Chance hatte. Lilly musste der Nomadin in ihr immer wieder Auslauf geben. Es gab kein Vorsäß und keine Almen in Wien, wo sie mit dem Vieh von einem Platz zum nächsten ziehen konnte, aber dafür gab es andere Städte und Länder. Und wenn sie nicht mindestens alle sechs Wochen eine Abenteuerreise machen konnte, wurde sie unruhig. Meistens fuhr sie dann nach Frankreich. So wie jetzt auch, um eine Geschichte zum Thema Trauma zu recherchieren. Sie sprach fließend Französisch, weil ihre Mémé aus Lyon kam und so wie ihre Mutter aus Liebe nach Wien in „die Fremde“ gezogen war. Lilly liebte die Sprache und träumte und dachte, wenn sie von Reisen aus Frankreich zurückkam, noch wochenlang in ihrer Vatersprache, wie sie es nannte.
    Vorarlberg gehörte zwar offiziell nicht zum Ausland, obwohl es sich schon einmal darum bemühte hatte. Die Schweizer wollten damals nicht und nannten das kleine Land: Kanton übrig.
    Lillys Vater konnte bis zu seinem Tod den Bregenzerwälder Dialekt nie wirklich sprechen, und ihre Mutter hatte Deutsch wie eine Fremdsprache gelernt, als sie zu ihm nach Wien gezogen war. Dann hatte sie die beiden Sprachen, die nicht miteinander verknüpfbar waren, vollkommen getrennt nebeneinander gestellt und sie aus ihren Fächern, in denen sie verstaut waren, nach Bedarf herausgenommen. Das war kein Problem gewesen, solange Lillys Eltern sich nicht stritten oder sich im Bregenzerwald aufhielten. Lilly konnte sich noch genau an die gemeinsamen Abendessen am „Burôtisch“ 04 in der Stube in Mellau erinnern. An der Wand hing der Spruch: „Meor ehrod das Ault und grüßed das Nü und blibot üs sealb und dr Hoamat trü.“ Was soviel heißt wie: „Wir ehren das Alte, wir grüßen das Neue und bleiben uns selbst und der Heimat treu.“
    Lilly wusste, dass ihre Mutter sich wie eine Verräterin fühlte, wenn sie mit ihrem Vater vor ihren Eltern Hochdeutsch sprach und es kaum schaffte, in ihren Heimatkanal zu wechseln, wenn sie das Wort an die beiden richtete. Ihre Großeltern wiederum bemühten sich krampfhaft, sich in der „Fremdsprache“ verständlich zu machen, was manchmal zu hilflosen sprachlichen Verrenkungen führte, unter denen ihre Mutter litt. Lilly fand die kreativen Wortschöpfungen wunderbar und

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