Lillys Weg
amüsierte sich darüber.
Wenn ihre Eltern dann später auf ihrem Zimmer stritten, verfiel ihre Mutter in den allerbreitesten Dialekt und nannte ihren Vater im Zorn âan fula Sukogâ, was soviel wie âfauler Sauhundâ hieÃ, weil er es in den vielen Jahren ihrer Beziehung nicht geschafft hatte, ihre Sprache auch nur annähernd zu erlernen.
Lilly hatte diese Probleme nicht. Sie war ganz natürlich mehrsprachig aufgewachsen. Der Umstieg in den jeweils anderen Sprachkanal fiel ihr leicht. Ralf liebte es am meisten, wenn sie, die FüÃe auf ihren Schreibtisch gelegt, mit ihrer Mutter oder ihrer besten Freundin Ella, die eigentlich Aurelia hieÃ, in Mellau telefonierte. Die vielen âJausâ und âDausâ faszinierten ihn, auch wenn er das meiste nicht verstand.
Rotraut und Erwin vom Leporello , ihrer Lieblingsbuchhandlung in der LiechtensteinstraÃe, hatten wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Lilly saà an dem kleinen Tischchen, an dem die Kunden schmökern konnten, und las sich quer durch Bücher über Traumatherapie.
Die internationale Traumaexpertin, die sie sich für ihre Geschichte als Expertin ausgesucht hatte, war einem stark lösungsorientierten Zugang verpflichtet und lebte und arbeitete in Lyon. Lilly würde übermorgen dorthin fliegen, um an einem Seminar für Therapeuten teilzunehmen.
Die Stadt empfing sie mit heiterem Sonnenschein. Sie stellte ihr Gepäck in dem kleinen Hotel ab, in dem sie immer wohnte, und zog sich nur kurz in ihrem Lieblingszimmer mit Blick auf die Saône bequemere Schuhe an. Sie kannte Lyon wie ihre Westentasche. Mémé war gründlich vorgegangen. Zuerst hatte sie das Kind von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit geschleppt, dann waren die Museen an der Reihe gewesen. Lilly hatte sich mehr für die Details des alltäglichen Lebens interessiert. Sie wollte die Schwäne füttern, die bei den vielen Brücken, die die beiden Stadthälften miteinander verbanden, auf die Touristen warteten. Sie wollte die Bewohner der Hausboote, die am Ufer vertäut lagen, beobachten und inspizierte jeden Blumentopf und jedes Möbelstück auf den Schiffdecks genau. Sie versuchte durch halb zugezogene Vorhänge in die Schiffszimmer hineinzusehen und war einmal so lange vor einem der Fenster stehen geblieben, bis die Besitzer sie und Mémé zu einer Besichtigung eingeladen hatten. Sie wollte dem Mann zuhören, der auf dem steilen FuÃweg zur Basilika französische Chansons sang und sich selber auf der Ziehharmonika begleitete. Sie wollte dem kleinen Pfad folgen, der dort, wo er saÃ, vom Hauptweg abzweigte. Sie zeigte ihrer GroÃmutter begeistert jede einzelne Pflanze in dem kleinen Gärtchen, das wider Erwarten am Ende des Pfades hinter hohen Büschen verborgen lag, und berührte mit ihren kleinen Händen die warmen Steine, die jemand liebevoll zu einem schützenden Mäuerchen aufgeschichtet hatte.
Sie verbrachte Stunden damit, die Dächer der Stadt von oben zu betrachten. Sie sah jede noch so kleine Terrasse, jedes Tier aus Stein, jede Figur, die einen Giebel schmückte. Grand-Mère liebte ihre einzige Enkeltochter abgöttisch und lieà sich, obwohl sie eine strenge, disziplinierte Frau war, geduldig von hier nach dort zerren.
Lilly lieà dafür das Kulturprogramm geduldig über sich ergehen. Wenn sie dann im eleganten, kleinen Salon ihrer GroÃmutter saÃ, heiÃe Schokolade trank und mit Orangenmarmelade gefüllte Croissants aÃ, war sie rundum glücklich. Am Anfang hatte ihr Vater sie auf ihren Reisen nach Lyon begleitet. Das war auch schön, aber anstrengend. Die beiden Erwachsenen trugen ihre Spannungen untereinander subtil über das Kind aus, und Lilly musste mehr als einmal in ihre Fantasiewelt flüchten, weil es drauÃen so laut zuging.
Als sie alt genug war, flog sie als âunbegleitetes Kindâ mit Âeiner Plastiktasche mit ihren Daten um den Hals nach Lyon und lebte für vierzehn Tage im Schlaraffenland. Sie war der Mittelpunkt in Mémés Leben, ihr âpetit Bijouxâ, und alles drehte sich um sie.
Lilly lächelte und schickte Mémé einen Gruà in den Himmel. Sie war nicht gläubig, wusste aber sicher, dass die Menschen, die sie liebte, über den Tod hinaus mit ihr verbunden blieben. Ob sie sich dort oben mit ihren Bregenzerwälder GroÃeltern gut verstand? Zu Lebzeiten hatte es nach der
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