Lillys Weg
hatte.
Ihre Zeitschrift Psychologie Morgen war noch lange nicht in der Gewinnzone. Aber die Leserzahlen stiegen ständig und die Anzeigenkunden, die sich zunächst abwartend gezeigt hatten, gaben langsam ihre Vorbehalte auf. Nachdem Lilly Paolo kennengelernt hatte, gab es einen signifikanten Anstieg bei den Werbeeinschaltungen und Lilly hatte den Verdacht, dass er ihr Magazin unauffällig förderte. Sie waren inzwischen gute Freunde geworden. Lilly lernte seinen Einfluss kennen, erlebte, wie Mitglieder der Regierung seine Nähe suchten, sah ihn politische und gesellschaftliche Fäden ziehen und öffentliche Projekte kippen oder fördern. Er machte Wahlwerbung für die Sozialistische Partei, obwohl sein Beruf als Anwalt eher eine Zugehörigkeit zum bürgerlichen Lager vermuten lieÃ, und lieà sie an seinen Gedanken zu innovativen Projekten teilhaben. Manchmal fragten sie einander auch um Rat, und Ralf, der die Freundschaft mit Amüsement verfolgte, nannte ihn den âNapoleon von Wienâ.
Einmal im Monat trafen sie sich zum Mittagessen, und als Âeines Tages zufällig Sybille vorbeiging und sich zu ihnen setzte, war klar, dass Paolo eine neue Gespielin suchte. Er hatte plötzlich wieder diesen ungebremsten, nackten, geilen Blick, den sie so gut kannte ⦠âIch muss Sybille vor ihm warnenâ, aber während sie es dachte, wusste Lilly, dass es schon zu spät war. Tief in ihrem Inneren war ihre Freundin sehr einsam und versuchte diese Leere mit immer neuen erotischen Abenteuern zu verdrängen. Das Spiel war eröffnet. Sie spürte einen kleinen Stich und dachte mit einer leichten Wehmut, wie vergänglich diese pure Geilheit war. Wie leicht sie schal wurde und wie sicher das Ende vorprogrammiert war. âIch hätte diese Zeit noch mehr genieÃen sollen â¦â
In den nächsten Wochen sah sie zu, wie Sybille â ohne sich ihr anzuvertrauen, weil es ihr offenbar so peinlich war wie Lilly damals â sich von einer normalen Frau in einen Vamp verwandelte. Sie schien nicht nur ihre Obsession mit Paolo zu leben, sie zeigte sie auch in ihrer Kleidung. Sie, die immer gerne flache Treter getragen hatte, kam plötzlich mit Stöckelschuhen daher, die man als Mordwaffe hätte verwenden können. Ihre wallenden Hippieklamotten verschwanden von einem Tag auf den anderen und machten hautengen, tief ausgeschnittenen Kleidern Platz.
An dem Tag, als Sybille in einem mehr als kurzen Tigerkleid, einem passenden, kleinen, frivolen Hütchen, schwarzen Netzstrümpfen und Schuhen mit Tigermuster auftauchte, war Lilly versucht, ihr zu sagen, dass sie in ihrer Kleidung besser etwas mehr Abstand zu den Prostituierten am Gürtel wahren sollte. Sie entschied sich dann doch, ihr keinen Ratschlag zu geben, und merkte, dass sie sie insgeheim bewunderte für ihre Hemmungslosigkeit.
Sybille lag mehr als sie saà auf der Bank des Stammtisches in Oswald & Kalb in der BäckerstraÃe, einem Szenetreff mit guter Küche, der auch von Journalisten gern besucht wurde. Es war ein guter Platz für Liebespaare, die öffentlich nicht zueinander stehen wollten oder konnten. Man stand an der Bar oder saà am Stammtisch, und keiner fragte nach guten Sitten oder Moral oder was die Paare, die einander âzufälligâ hier trafen, anschlieÃend noch vorhatten. Einige von ihnen, das hatte Ralf ihr erzählt, besuchten dann meist das Hotel Orient , das beste Stundenhotel der Stadt, das nicht mehr als fünfzehn Minuten von der BäckerstraÃe entfernt lag. Es war also keinesfalls ungewöhnlich, dass Sybilles Hand unauffällig auf Paolos Schritt ruhte und er wie nebenbei ihre Brust streichelte, während er politische Gespräche führte.
Lilly hatte damals nur ihre Unterwäsche und ihren Gang verändert und war sich schon unglaublich frivol vorgekommen. Und auÃerdem wäre sie nie auf die Idee gekommen, ihre Obsession öffentlich zu leben. Als sie am Nachhauseweg mit Ralf darüber sprach, sagte er nur trocken: âGott sei Dank, es gibt Grenzen, was der Ruf von Psychologie Morgen verkraften kann.â
Einen Mann gab es seit Paolo noch immer nicht in Lillys Leben. Die Zeitschrift war ihr Baby, und nachdem Ralfs Partner in München lebte, verbrachten sie und Ralf viele Abende miteinander, teilweise in der Redaktion und häufig in ihren Stammlokalen. Neben Oswald & Kalb gab es noch ihren Lieblingsgriechen im dritten
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