Lillys Weg
zum Bolzplatz gehen.â Ludwig war ihr Mann und stand ebenfalls schon in der Tür.
Dann nahm diese fremde Frau, die einen Kopf kleiner war als sie, Lilly einfach in den Arm und sagte mit ruhiger Stimme: âFahren Sie mal ruhig ohne den Jungen, ich passâ schon auf ihn auf.â
Lea war eine Erwachsene im Körper eines Kindes. Lilly spürte ihre kleine Hand in ihrer groÃen warm und ruhig, als sie an der Haltestelle vor dem Campingplatz auf den Bus nach Kiel warteten. Vielleicht war es gut, wenn Oskar seine Tochter und seinen Sohn nacheinander sehen konnte. Der Gedanke war noch kaum zu Ende gedacht, als sie sich dessen bewusst wurde, dass sie immer zuerst an Oskar dachte. Und was war mit Lea? War es gut für sie, dass sich die ganze Wucht der Begegnung nach so vielen Monaten auf sie alleine konzentrierte? Der rote Autobus, der um diese Zeit fast leer war und genau vor ihren FüÃen stehen blieb, enthob sie einer Antwort.
8. Juli 1991
Lea klammert sich an meine Hand, als sie das rote BacksteinÂgebäude mit den vergitterten Fenstern sieht. Jetzt bin ich Mutter und sie ganz Kind. Ich bete zu den Wesen, dass sie mein kleines Mädchen in einen Schutzmantel hüllen sollen, und spüre, dass mein Gebet auch mich stärkt. Sie kennt die Rituale, die uns erwarten, ich habe ihr vorher alles genau erzählt. Pässe abgeben, Tasche ins SchlieÃfach sperren, mit anderen Frauen und Kindern warten. Lea hält das Geld, mit dem sie ihrem Papa aus dem ÂAutomaten SüÃigkeiten kaufen wird, wie einen Talisman fest umklammert.
Neben ihr sitzt ein Mädchen in ihrem Alter. âWie lange muss dein Papa hierbleiben?â, fragt es und bekommt von seiner Mutter eine Rüge dafür. Lea schaut mich hilflos an, und ich antworte für sie: âDas wissen wir noch nicht genau.â Das Mädchen nickt altklug. âJa, das war bei uns am Anfang auch so. Aber jetzt habe ich einen Kalender zu Hause, da kann ich die Tage zählen. Es sind nur noch 621.â
Ich bin froh, dass unser Besuch im groÃen Saal stattfindet. Er heiÃt Allzweckraum, und wenn wir weg sind, spielen die Häftlinge hier Tischtennis, und am Sonntag wird eine Messe gelesen. Wir setzen uns an einen der kleinen Tische und schauen uns die anderen Besucher an, während wir auf âunseren Gefangenenâ warten. Männer in Jogginghosen, die Oberarme meist nackt, viele von ihnen mit beeindruckenden Tätowierungen. FrauenÂnamen, Schiffe, Ornamente, rote Herzen. In einer Ecke spielen Kinder, denen man ansieht, dass sie diesen Alltag gewöhnt sind. Frauen, die ihre ferne oder nahe Beziehung durch Körperhaltung und Gesichtsausdruck sichtbar machen, werfen uns verständnisvolle Blicke zu. Ich bin zum ersten Mal hier und spüre meine Erleichterung. Es ist so, als ob die anderen Menschen uns ein Stück Âmittragen. Wir sind eine Gemeinschaft, die ein besonderes Schicksal teilt.
An einem Tisch an der Stirnseite des Raumes sitzen drei Beamte und beobachten das Geschehen. Dann öffnet sich endlich die Tür an ihrer linken Seite. Oskar, mit einer Stofftasche in der Hand, tritt heraus und sieht sich suchend um. Lea springt auf und ruft laut: âPapa, Papa, Papa!â Dann läuft sie durch den groÃen Raum auf ihn zu und fliegt in seine Arme. Ich bleibe sitzen und spüre mehr, als ich es sehe, das Beben in Oskars Körper. Ich weiÃ, dass er jetzt weint und dass Lea versucht, ihre Tränen zu schlucken.
Es war einfach, auf Ellernbrook glücklich zu sein. Das Leben bestand aus einer Aneinanderreihung von kleinen Pflichten und Ereignissen, die sich zu einem Tag fügten, dem der Besuch von Gemeinschaftsduschen und Gemeinschaftsabwaschplätzen eine gewisse Struktur gab. Man frühstückte, wenn es rundum laut wurde und die âMoin, Moin, Moin!â nicht mehr zu ignorieren waren, man aà zu Mittag, wenn es überall nach Essen duftete, man trank Kaffee mit Blick aufs Meer, wenn die Colorline gegen sechzehn Uhr vorüberfuhr. So wie alle.
Es war eine beruhigende Normalität und Lilly genoss die Einfachheit ihres Lebens. Lea und Niklas waren ständig am Strand und auf dem FuÃballplatz, der hier Bolzplatz hieÃ, und hatten wie alle Kinder auf dem Campingplatz Drachen, die sie um die Wette steigen lieÃen. Wenn Langeweile aufkam, radelten sie in einen der nahen Küstenorte und legten sich zu den anderen Touristen an einen âfremdenâ Strand. Am
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