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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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bleiben und einfach nie mehr aufstehen. Ob man das Depression nennt? Ich tappe in meiner inneren Dunkelheit herum und finde den Ausgang nicht.
    Dann geht plötzlich die Tür auf. Lea und Niklas, beide im Pyjama, tragen gemeinsam eine Geburtstagstorte herein, auf der ein buntes Haus aus Karton steht, dessen Grundmauern schon etwas fettig von der Schokoladenglasur sind. Vor dem Haus stehen in einer Blumenwiese aus grünem Marzipan vier Menschen aus Pappmaschee. Und damit kein Irrtum aufkommt, wer sie sind, hat Lea in ihrer schönen, akkuraten Schreibschrift kleine Zettelchen auf Zahnstochern aufgespießt, auf denen Mama, Papa, Lea und Niklas steht. Das Einzige, was nicht der Realität entspricht: Es gibt auch einen Hund. Er ist schwarz, mit einem weißen Fleck auf der Brust und heißt Bimba.
    Während sie „Happy Birthday“ singen, stellen sie ihre Torte auf meinen Nachttisch und springen ins Bett. Als hinter ihnen meine Mutter ins Zimmer kommt und mit ihrer dunklen, schönen Stimme „Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen“ anstimmt, singen Lea und Niklas inbrünstig mit.
    Das Licht ist wieder da. Ich werde alles dafür tun, damit diese Kinder ein gutes Leben haben.
    29. März 1991
    Karfreitag. Wer jemals die Frau eines Beschuldigten war, weiß, was das im Alltag bedeutet. Die anderen, die sich in ihrer Unschuld sonnen, können nicht mitreden. Sie wissen nicht, wie es ist, mitschuldig zu sein. Das Schiff lag schon auf dem Grund des Ozeans, als ich Oskar kennenlernte. Aber das spielt keine Rolle. Das Flüstern, die Diffamierungen, das Konto beim Lebensmittelhändler, das jetzt gesperrt ist, die Eltern der Kinder, die nicht mehr wollen, dass meine Kinder mit ihnen spielen, das Flüstern im Gläsernen Elefanten, wenn ich den Raum betrete. All das ist jetzt mein Alltag. Oskar darf schreiben. Der Richter liest seine Post, und wenn ich antworte, liest er meine. Ich schreibe trotzdem: „Ich liebe Dich und stehe zu Dir.“ Aber es kommt mir so vor, als ob es auf dem Postweg seine Kraft verliert, weil es durch zu viele Hände geht.
    Heute ist Jesus am Kreuz gestorben vor Tausenden von Jahren. Bespuckt und diffamiert. Und obwohl er wieder auferstanden ist, hat die katholische Kirche das Symbol des Kreuzes als Markenzeichen für diesen Glauben gewählt. Wieso nicht die Auferstehung? Wieso nicht das göttliche Licht, das seinen Sarg ausgefüllt hat, als er sich unversehrt über das Leid erhob? Mein Glaube ist mir Trost und Hilfe. Aber es ist der Glaube an die Wesen, die es immer gab. An die vielen Schutzengel, die an unserer Seite stehen. Ich besuche jetzt einmal in der Woche Irene. Ich brauche diese Anbindung an mein göttliches Wesen. Nur so kann ich das Leben, das ich führe, ertragen. Mein gesellschaftliches Kleid gibt es nicht mehr. Vor Lilly Baldini, der angesehenen Journalistin, die kritische Reportagen schreibt, steht Lilly Baldini, die Frau des Häftlings, und deckt die andere zu. Vollständig. Ich kann kein Interview mehr führen, ohne dass die Frage auftaucht, wie es meinem Mann geht. Ich kann kein Glas Wein bei Oswald & Kalb trinken, ohne dass Kollegen mich fragen, ob ich ihnen ein Interview geben will und wie es der Frau des Angeklagten geht. Fernsehkameras und Fotografen streifen auf Pressekonferenzen wie zufällig mein Gesicht. Man kann nie wissen, wann man es für die Schlagzeile „Baldini in Kiel verurteilt“ braucht.
    Ich fürchte mich vor den Osterfeiertagen. Alles, was mit Ritualen verbunden ist, weckt Erinnerungen in mir, die ich schlecht ertragen kann. Oskar sitzt immer bei uns am Tisch. Ich engagiere mich, so gut ich kann. Aber es gibt kein Lachen mehr, das bis in die tiefste Schicht echt ist. Über unserem Leben liegt das Entsetzen, dass wir nicht wissen, ob er jemals wiederkommt.
    Die Redaktion ist mein Trost. Wenn ich arbeite, vergesse ich für einen Moment, wer ich in meinem Privatleben bin. Dann tauche ich ein in die Geschichten anderer. Ich interviewe Menschen, die in Gletscherspalten gefallen sind und überlebt haben, ich frage Extrembergsteiger, ob man sich Gott auf dem Gipfel näher fühlt, und warte auf Weltumsegler an ihrem Zielhafen. Fremde Emotionen sind mir lieber als meine eigenen.
    Ralf beobachtete Lilly und machte sich Sorgen um sie. Sie hatte sich in die Serie „Extreme Gefühle“ so stark hineinfallen lassen, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe.

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