Lillys Weg
AuÃer Oskar und die Kinder natürlich. Sie arbeitete an allen Fronten bis zur Erschöpfung, und wenn er sie darauf hinwies, sagte sie nur: âIch muss mich ablenken. Ich ertrage dieses Leben sonst nicht.â
Einmal im Monat besuchte sie Oskar. Er begann, sich im Gefängnis einzuleben, und erzählte ihr von seinem neuen Freund, dem Philosophen, der im Supermarkt betrunken eine Flasche Gin gestohlen hatte. Der würde auch einige Zeit im Knast bleiben. Er hatte ein Taschenmesser bei sich gehabt und die Tat wurde daher als Raub gewertet, weil er bewaffnet war.
Wenn Oskar von seinem Alltag sprach, dem Sport im Hof, wo er seine Runden joggte, dem Feierabend um siebzehn Uhr, wo alle wieder in ihren Zellen saÃen und mit ihren Gedanken alleine waren, dann klang es so, als ob er als Gast in einem Kurhotel den Ablauf beobachtete, dem er sich für eine Weile unterordnete. âManche Menschen gehen in Klöster, um die Stille zu finden. Ich habe mir eben ein Gefängnis ausgesuchtâ, sagte er, und Lilly wollte es glauben.
Wenn sie das Gefängnis verlieÃ, ging sie zu Hilde und fuhr anschlieÃend an die Kieler AuÃenförde. Auch sie hatte ihren Alltag in Kiel gefunden und bereitete schon die Sommerferien mit den Kindern vor.
10. Kapitel
Das Wohnmobil war zehn Jahre alt und roch leicht nach ChemieÂtoilette. Lilly sah den Kindern zu, wie sie aufgeregt ihre Sachen in den verschlieÃbaren Regalen über dem hinteren Bett verstauten, und überlegte, ob sie alles eingepackt hatte für ihre groÃe Reise nach Kiel. Auf dem Tisch gegenüber der kleinen Küche stapelten sich Spaghettipackungen, Tomatendosen, Butter, robuste Käsesorten, Kekse mit und ohne Schokoladenüberzug, Essig, Olivenöl, Salz, Pfeffer, abgepacktes Brot, Apfelsaft und Kakao für die Kinder, Kaffee und WeiÃwein für sie. Die Nomadin war zufrieden. Sie konnten an jedem Waldrand stehen bleiben und waren gut ausgerüstet.
Das Wohnmobil hatte Johannas Eltern gehört. Ihr Vater hatte sich nach seiner Pensionierung den lang gehegten Traum Âerfüllt, und ihre Mutter, von der man nicht so genau wusste, was sie mehr ablehnte, das Leben âin der kleinen Schachtelâ, wie sie es nannte, oder die Dauernähe zu ihrem Mann, war nur einmal mitgefahren. Ans Nordkap und zurück. Das hatte ihr für den Rest ihres Lebens gereicht. Seither war Bärli, so hatten Lea und Niklas den behäbigen, cremefarbenen 3,2-Tonner getauft, in einer Gartenecke unter einer Plane gestanden. Er durfte nur noch jeden Sommer vierzehn Tage auf die Reise, wenn Johannas Vater mit seiner Skatrunde auf Urlaub fuhr. Nachdem die Herren nicht kochten auf ihren Gourmettouren durch Frankreich, sah Bärli aus wie neu. Und wenn man davon absah, dass die hellbraun gemusterten Sitzbezüge gnadenlos spieÃig aussahen, war ihr neues Zuhause richtig gemütlich. Lilly hatte mit Johannas Hilfe, die nähen konnte, die braunen Vorhänge durch pinkfarbene ersetzt, und wenn man genau hinsah, fand sich das kräftige Rosa als kleine Pünktchen in den braunen Ãberzügen.
Bärli war jetzt ein Mitglied der Familie Baldini. Johannas Eltern hatten ihn günstig verkauft. Sie wären auch bereit gewesen, ihn herzuleihen. Aber der Gedanke an ausgeschüttete Limonade auf dem Sofa, Kratzer auf dem makellosen Boden oder auf der Karosserie hatten Lilly nach Rücksprache mit Oskar zu diesem Schritt bewegt. Von nun an würde Bärli zwar von niemanden mehr ständig innen und auÃen geputzt, aber dafür gab es eine neue, dankbare Familie und ein neues Leben.
In den ersten Wochen nach dem Kauf hatte Lilly das Auto im 9. Bezirk auf immer neue Parkplätze gefahren, weil es verboten war, ein Wohnmobil länger auf der StraÃe zu parken. Das hatte zwar den Vorteil, dass sie mit dem Riesending einparken gelernt hatte, war aber auf Dauer zu mühsam. Nach ihrer Reise würde sie Bärli am See beim kleinen Häuschen lassen. Dort konnte er auf seinen nächsten Einsatz warten.
7. Juli 1991
DrauÃen hinter den dünnen Wänden von Bärli atmet ein Dorf. Seinen Namen habe ich schon wieder vergessen. Es besteht nur aus ein paar Häusern, deren Hausnummern offenbar in der Reihenfolge ihrer Entstehung vergeben wurden. Ein ganz neues, das sich mit seinen Marmorsäulen und den venezianischen Balustraden in dieser Gegend zu groà macht, trägt die Nummer 75. Ich höre Hunde bellen und drei
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