Ein Jahr voller Wunder
1
W ir bemerkten es nicht sofort. Wir konnten es nicht spüren.
Wir nahmen, anfangs, die zusätzliche Zeit nicht wahr, die am glatten Rand jedes Tages anschwoll wie ein Tumor unter der Haut.
Wir waren damals abgelenkt, von Wetter und Krieg. Für die Drehung der Erde interessierten wir uns nicht. Immer noch explodierten Bomben auf den Straßen ferner Länder. Hurrikane zogen vorüber. Der Sommer ging zu Ende. Ein neues Schuljahr begann. Die Uhren tickten wie üblich. Sekunden fädelten sich zu Minuten auf. Minuten wuchsen zu Stunden an. Und nichts deutete darauf hin, dass diese Stunden sich nicht weiterhin zu Tagen ansammelten, jeder von derselben, unveränderlichen, allen Menschen bekannten Länge.
Aber es gab jene, die später behaupten würden, die Katastrophe schon vor uns anderen bemerkt zu haben. Das waren die Nachtarbeiter, die Schichtdienstler, die Regalauffüller und Hafenarbeiter, die Fahrer der Sattelzüge oder die Träger anderer Bürden: die Schlaflosen und die Sorgenschweren und die Kranken. Diese Leute waren daran gewöhnt, auf das Ende der Nacht zu warten. Aus blutunterlaufenen Augen bemerkten einige eine gewisse Beharrlichkeit der Dunkelheit an den der Meldung vorausgehenden Morgen, doch jeder missdeutete sie als die persönliche Sinnestäuschung eines einsamen, verstörten Geistes.
Am sechsten Oktober gingen die Experten an die Öffentlichkeit. Das ist selbstverständlich der Tag, an den wir alle uns erinnern. Es habe eine Veränderung stattgefunden, sagten sie, eine Verlangsamung, und so nannten wir es von da an: die Verlangsamung .
»Wir können noch nicht einschätzen, ob diese Tendenz sich fortsetzen wird«, sagte ein schüchterner, bärtiger Wissenschaftler auf einer hastig einberufenen, inzwischen berüchtigten Pressekonferenz. Er räusperte sich und schluckte. Blitzlichter blendeten ihn. Dann kam die Passage, die hinterher so häufig wiederholt wurde, dass die spezielle Sprachmelodie dieses Wissenschaftlers – die Senkungen und die Pausen und der schwache mittelwestliche Akzent – unauflöslich mit der Meldung selbst verknüpft bleiben sollte. Er sprach weiter: »Aber wir befürchten, dass sie sich fortsetzen wird.«
Unsere Tage waren über Nacht um sechsundfünfzig Minuten angewachsen.
Zu Anfang standen die Menschen an Straßenecken und beschworen lautstark den Weltuntergang. Seelsorger kamen in die Schule, um mit uns zu sprechen. Ich weiß noch, dass ich Mr Valencia von nebenan dabei beobachtete, Konservendosen und Wasserflaschen in seiner Garage zu stapeln, als bereitete er sich auf eine, wie es mir heute erscheint, viel geringfügigere Katastrophe vor.
Die Supermärkte waren bald leer, die Regale blank wie abgenagte Hühnerknochen.
Die Schnellstraßen waren sofort verstopft. Die Leute hörten die Nachrichten, und sie wollten weg. Familien quetschten sich in Minivans und überquerten Staatengrenzen. Sie huschten in alle Richtungen wie kleine Tiere, die plötzlich von einem Licht erfasst werden.
Aber natürlich konnte man nirgendwo auf der Erde hin.
2
D ie Meldung wurde an einem Samstag veröffentlicht.
Bei uns zu Hause zumindest hatte die Veränderung unbemerkt stattgefunden. Wir schliefen noch, als die Sonne an jenem Morgen aufging, und deshalb nahmen wir nichts Ungewöhnliches im Zeitablauf wahr. Diese letzten Stunden, bevor wir von der Verlangsamung erfuhren, sind mir – selbst nach all diesen Jahren – im Gedächtnis erhalten geblieben, als wären sie hinter Glas eingeschlossen.
Meine Freundin Hanna hatte bei mir übernachtet, und wir lagen in Schlafsäcken auf dem Wohnzimmerfußboden, wo wir schon hundert andere Nächte nebeneinander geschlafen hatten. Beim Aufwachen hörten wir das Schnurren von Rasenmähermotoren und das Bellen von Hunden, das leise Quietschen eines Trampolins, auf dem die Zwillinge nebenan sprangen. In einer Stunde trügen wir beide blaue Fußballtrikots – die Haare aus dem Gesicht gebunden, Sonnenmilch aufgetragen, klackernde Stollen auf dem Fliesenboden.
»Ich hatte letzte Nacht einen total seltsamen Traum«, sagte Hanna. Sie lag auf dem Bauch, den Kopf auf einen Ellbogen gestützt, ihre langen blonden Haare klemmten zerzaust hinter den Ohren. Sie hatte eine gewisse dünne Schönheit, die ich auch gern gehabt hätte.
»Du hast immer seltsame Träume«, sagte ich.
Sie zog den Reißverschluss ihres Schlafsacks herunter und setzte sich auf, drückte die Knie an die Brust. An ihrem schmalen Handgelenk klimperte ein Bettelarmband mit vielen
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