Limit
liebster Julian, eine Realangst, weil objektbezogen und konkret begründet. Wir fürchten uns vor Hunden, besoffenen Arsenal-Fans und der kommenden Steuergesetzgebung. Ich rede von Angst. Von dem diffusen Nebel, in dem alles Mögliche lauern könnte. Von der Angst, zu versagen, nicht zu genügen, sich falsch einzuschätzen, eine Katastrophe auszulösen, von lähmender Angst, letztlich der Angst vor sich selbst. Kennst du so was?«
»Hm.« Julian schwieg eine Weile. »Sollte ich?«
»Nein, wozu? Du bist, wer du bist. Aber Lynn ist nicht so.«
»Sie hat nie was von Angst gesagt.«
»Falsch. Du hast nicht hingehört, weil du wie immer zu viel Adrenalin in den Ohren hattest. Weißt du wenigstens, was vor fünf Jahren passiert ist?«
»Ich weiß, sie hatte enorm viel zu tun. Vielleicht meine Schuld. Aber ich hab gesagt, ruh dich aus, oder nicht? Und das hat sie gemacht. Und anschließend das Stellar Island Hotel gebaut, das OSS Grand, das Gaia, sie war leistungsfähiger denn je. Wenn es also Erschöpfung ist, weswegen ihr ein solches Getue macht, dann –«
»Wir machen kein Getue«, sagte Amber verärgert. »Ich bin es übrigens, die dich ständig bei Tim verteidigt, dass er mich schon fragt, ob ich Geld dafür bekomme. Und jedes Mal antworte ich, selig die Unwissenden. Glaub mir, Julian, ich stehe auf deiner Seite, ich hatte immer schon ein Herz für Begriffsstutzige, ich kann sogar in deiner Vernageltheit liebenswerte Aspekte erkennen, vielleicht bringt das ja die Sozialarbeit mit sich. Darum liebe ich dich sogar, wenn du nicht das Geringste kapierst, aber das heißt ja nicht, dass es so bleiben muss, oder? Und du hast eben immer noch nicht verstanden, worum es geht.«
»Ist ja gut.«
»Nur zur Erinnerung, du wolltest mit mir über Lynn reden, anstatt meine Frage zu beantworten.«
»Also erklär mir, was mit ihr los ist.«
»Ich soll dir hier mitten im Oceanus Procellarum die Psyche deiner Tochter erklären?«
»Ich wäre für jeden Versuch dankbar.«
»Ach du meine Güte.« Sie überlegte. »Also gut, im Telegrammstil: Du denkst, Lynn war damals erschöpft?«
»Ja.«
»Wundert es dich, wenn ich dir sage, dass Überarbeitung Lynns geringstes Problem war? Andernfalls hätte sie Orley Travel nicht leiten und deine Hotels nicht bauen können. Nein, ihr Problem ist, dass, sobald sie die Augen schließt, Mini-Lynns jeden Alters von allen Seiten beginnen, sie einzukesseln. Baby-Lynns, Kinder-Lynns, Teenager-Lynns, Tochter-Lynns, Papas-Liebling-Lynns, die glauben, sich deine Anerkennung nur verdienen zu können, indem sie ein noch härterer Hund werden als du. Vor dieser Armee aus der Vergangenheit, die sie Tag und Nacht kontrolliert, hat Lynn panische Angst. Doch sie denkt, Kontrolle sei alles. Noch mehr Manschetten hat sie allerdings davor, die Kontrolle zu verlieren, weil sie fürchtet, dass dann etwas Entsetzliches zum Vorschein käme, eine Lynn, die nicht sein darf, vielleicht aber auch gar keine Lynn, weil das Ende der Kontrolle zugleich das Ende ihrer Existenz bedeuten würde. Verstehst du?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Julian wie jemand, der einen Wald voller Fallgruben durchquert.
»Für Lynn ist die Vorstellung, sich nicht unter Kontrolle zu haben, mehr als nur Angst einflößend. Für sie ist Kontrollverlust gleichbedeutend mit Wahnsinn. Sie fürchtet, so zu enden wie Crystal.«
»Du meinst –« Er stockte. »Lynn hat Angst, wahnsinnig zu werden?«
»Tim glaubt, dass es so ist. Er hat mehr Zeit mit ihr verbracht, wird es besser wissen, aber ich schätze, ja, genau das ist der Punkt. War es jedenfalls vor fünf Jahren.«
»Davor hatte sie Angst?«
»Angst zu versagen, die Kontrolle zu verlieren und den Verstand. Aber am meisten ängstigte sie, zu welch schrecklichen Dingen sie fähig wäre, um die Kontrolle zu behalten. – Apropos, wusstest du, dass Selbstmord auch ein Akt der Kontrolle ist?«
»Warum denn jetzt Selbstmord, um Himmels willen?«
»Mensch, Julian.« Amber seufzte. »Weil es dazu gehört. Muss ja nicht der leibliche Suizid sein. Ich meine jedweden Akt der Zerstörung deiner selbst, deiner Gesundheit, deiner Existenz, sobald die Angst, der Vernichtung durch Fremdeinwirkung ausgesetzt zu sein, ins Unerträgliche wächst. Lieber machst du dich selbst kaputt, als dass andere es tun. Der ultimative Akt der Kontrolle.«
»Und –«, Julian zögerte, »– ist es wahr, dass Lynn wieder Anzeichen zeigt für – für diese –«
»Anfangs dachte ich, Tim übertreibt. Jetzt
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