Limit
hören.«
ROVER
Während der ersten halben Stunde hatte Amber jede Hoffnung fahren lassen, dass sie die Förderstation überhaupt je erreichen würden. Aus großer Flughöhe präsentierte sich das Anstarchus-Plateau als moderat geschwungene Bilderbuchlandschaft für lunare Automobilisten, insbesondere entlang des Schröter-Tals, wo das Terrain vollkommen eben wirkte, beinahe wie planiert. Doch die bodennahe Erfahrung lehrte den Alltag der Ameise. Alles wuchs sich zum Hindernis aus. So mühelos die Rovers kleinere Buckel und im Weg liegende Felsbrocken dank ihrer flexiblen Achsen überfuhren, erwiesen sie sich umso anfälliger für Kleinstkrater, Schlaglöcher und Spalten, die sich alle paar Meter vor ihnen auftaten, sodass sie gezwungen waren, mit 20 bis 30 Stundenkilometern von einer Unwägbarkeit zur nächsten zu navigieren. Erst jenseits einer Ansammlung größerer Krater am Übergang zum Oceanus Procellarum beruhigte sich der Grund, und sie kamen schneller voran.
Immer öfter hatte Amber seitdem zum Himmel hinaufgeschaut in Erwartung, die Ganymed am Horizont auftauchen zu sehen, während ihre Hoffnung brütender Gewissheit wich, dass Locatelli es nicht geschafft hatte. Omura, die den zweiten Rover steuerte, war in Schweigsamkeit entrückt. Niemand redete sonderlich viel. Erst nach einer ganzen Weile sprach Amber ihren Schwiegervater auf einer gesonderten Frequenz an, sodass die anderen das Gespräch nicht mit anhören konnten.
»Du hast uns vorhin einiges verschwiegen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Nur so ein Gefühl.« Turnusmäßig suchte sie den Horizont ab. »Eine Kleinigkeit, die Frauen auf den Plan ruft, wenn Männer lügen oder nicht die ganze Wahrheit sagen.«
»Hör mir auf mit Intuition.«
»Nein, wirklich. Es ist einfach so, dass Frauen im Lügen talentierter sind. Wir haben das Repertoire der Verstellung besser drauf, darum können wir die Wahrheit durchschimmern sehen wie durch feine Seide, wenn ihr lügt. Du hast von der Möglichkeit eines Anschlags gesprochen. Auf eine Orley-Einrichtung irgendwo. Carl läuft Amok, die Kommunikation fällt aus, und rückblickend wird klar, dass er dich schon vor zwei Tagen verarscht und eine nächtliche Spritztour mit dem Lunar Express unternommen hat.«
»Und nichts davon ergibt einen Sinn.«
»Doch. Es ergibt einen Sinn, wenn Carl der Typ ist, der den Anschlag durchführen soll.«
»Hier auf dem Mond?«
»Tu nicht so, als wär ich schwer von Kapee. Hier auf dem Mond! Was hieße, dass nicht irgendeine Einrichtung betroffen ist, sondern eine ganz bestimmte.«
Sie bretterten weiter über den einförmigen, dunklen Basalt des Oceanus Procellarum dahin, schon im Grenzbereich zum Mare Imbrium. Erstmals konnten sie die Maximalgeschwindigkeit der Rovers voll ausfahren, wenngleich um den Preis einer fortgesetzten Schaukelpartie, da das Chassis auf und nieder wippte und die Fahrzeuge immer wieder abhoben. In der Ferne wurden Anhöhen sichtbar, die Gruithuisen-Region, eine Kette von Kratern, Bergen und erkalteten vulkanischen Domen, die sich bis hinauf zum Kap Heraclides erstreckte.
»Was anderes«, sagte Julian. »Kann ich mit dir über Lynn sprechen?«
»Solange es zu einer Antwort auf meine Frage führt, jederzeit.«
»Wie kommt sie dir vor?«
»Sie hat ein Problem.«
»Das sagt Tim auch immer.«
»Dafür, dass er es immer sagt, hörst du ihm bemerkenswert selten zu.«
»Weil er jedes Mal sofort auf mich losgeht! Das weißt du doch. Es ist unmöglich, mit ihm ein vernünftiges Wort über das Mädchen zu reden!«
»Vielleicht, weil Vernunft nicht ihren Zustand umreißt.«
»Dann sag du mir, was ihr Problem ist.«
»Ihre Fantasie, schätze ich.«
»Na großartig!«, schnaubte Julian. »Wenn es danach ginge, dürfte ich vor Problemen nicht ein noch aus wissen.«
»Alle Macht der Fantasie über die Vernunft ist eine Art Wahnsinn«, bemerkte Amber sentenziös. »Du bist auch ein bisschen wahnsinnig, aber ein Sonderfall. Du verteilst deinen Wahnsinn mit beiden Händen unter die Leute, kultivierst ihn, lässt dir dafür applaudieren. Du liebst deinen Wahnsinn, und darum liebt er dich und befähigt dich, die Welt zu retten. Hat dich je die Vorstellung wach gehalten, du könntest dich dabei übernehmen?«
»Ich mache mir Gedanken über Fehlentscheidungen.«
»Das ist nicht dasselbe. Ich meine, kennst du so etwas wie Angst?«
»Jeder fürchtet sich.«
»Augenblick. Furcht. Feiner Unterschied! Furcht ist das Ergebnis deiner aufgescheuchten Ratio,
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