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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Wal-Harpunier, so wie Ned Land, der in der Filmadaption von 20000 Meilen unter dem Meer von Kirk Douglas gespielt wurde und mit seinen in ein gestreiftes Trikot gegossenen Brustmuskeln, seinen Tattoos, seinem Spott und seiner Beherrschung Professor Aronnax und selbst dem finsteren Kapitän Nemo an äußerer Stärke klar überlegen war. Alle drei Gestalten boten sich für eine Identifikation an: der Gelehrte, der Rebell und der Mann der Tat, der gleichzeitig ein Mann aus dem Volk war; und wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich gern letzterer geworden. Aber es ging nicht nur nach mir. Meine Eltern gaben mir bald schon zu verstehen, dass der Wal-Harpunier nicht in Frage käme und es besser sei, Gelehrter zu werden – ich erinnere mich nicht, ob die dritte Option, der Rebell, damals diskutiert wurde –, zumal ich an starker Kurzsichtigkeit litt: Harpunieren Sie mal Wale mit einer Brille im Gesicht!
    Seit ich acht war, hatte ich eine solche tragen müssen. Eduard auch, doch er litt mehr darunter als ich. Denn in seinem Fall verbaute ihm dieses Handicap nicht ein Hirngespinst von Karriere, sondern genau die, zu der er eigentlich bestimmt war. Der Augenarzt, der ihn untersuchte, ließ seinen Eltern jedenfalls nur wenig Hoffnung: Mit einem so schlechten Sehvermögen sei ihr Sohn aller Voraussicht nach wehrdienstuntauglich.
    Diese Diagnose ist für ihn eine Tragödie. Er hatte niemals vorgehabt, etwas anderes zu werden als Offizier, und nun erklärt man ihm, dass er nicht einmal seinen Militärdienst machen würde und dazu verurteilt sei, das zu werden, was man ihm seit frühester Kindheit beigebracht hatte zu verachten: ein Zivilist.
    Und vielleicht wäre er auch ein solcher geworden, wenn das Gebäude, das die NKWD -Offiziere beherbergte, nicht abgerissen, seine Bewohner auf verschiedene Wohnorte verteilt und die Sawenkos in der Neubausiedlung Saltow am äußersten Stadtrand von Charkow einquartiert worden wären. Saltow, das sind im rechten Winkel angeordnete Straßen, die zu asphaltieren man jedoch nicht die Zeit oder die Mittel hatte, und Betonwürfel mit vier Etagen, die gerade erst gebaut wurden und schon wieder verfallen und in denen die Arbeiter dreier Fabriken mit den Namen »Die Turbine«, »Der Kolben« beziehungsweise »Hammer und Sichel« wohnen. Wir sprechen von der Sowjetunion, wo es im Prinzip nichts Abwertendes ist, Proletarier zu sein, doch die meisten Männer von Saltow sind Alkoholiker und Analphabeten, und die meisten ihrer Kinder verlassen die Schule mit fünfzehn, um in der Fabrik zu arbeiten oder, häufiger noch, um auf der Straße herumzuhängen, sich zu besaufen und sich eins in die Fresse zu schlagen, und selbst in der klassenlosen Gesellschaft begreift man nicht, was die Sawenkos in diesem Exil anderes hätten sehen sollen als einen sozialen Abstieg. Vom ersten Tag an trauert Raja der Straße der Roten Armee schmerzlich nach, der Gemeinschaft von Offizieren, die stolz waren, derselben Kaste anzugehören, den Büchern, die man sich gegenseitig lieh, und den Abenden, an denen die Ehemänner mit aufgeknöpften Uniformjacken über ihren weißen Hemden zu in Deutschland konfiszierten Foxtrott- oder Tango-Platten mit ihren jungen Frauen tanzten. Raja überhäuft Wenjamin mit Vorwürfen, hält ihm das Beispiel geschickterer Kameraden vor, die um drei Dienstgrade aufgestiegen sind, während er es mühsam vom Unterleutnant zum Leutnant gebracht hat, und die richtige Wohnungen in der Innenstadt bekommen haben, während sie selbst sich mit einem einzigen Zimmer für drei Personen in diesem grauenhaften Vorort begnügen müssen, wo niemand liest oder Foxtrott tanzt, wo eine kultivierte Frau niemanden zum Reden hat, und wo die Straßen nach jedem Regen in schwärzlichem Schlamm versinken. Sie geht nicht so weit zu sagen, dass sie besser einen Hauptmann Lewitin geheiratet hätte, aber sie denkt es oft; und der kleine Eduard, der seinen Vater mit seinen Stiefeln, seiner Uniform und seiner Pistole so sehr bewunderte, beginnt, Mitleid mit ihm zu haben und ihn bieder und ein bisschen bescheuert zu finden. Seine neuen Spielkameraden sind keine Offizierssöhne, sondern Prolls, und diejenigen unter ihnen, die ihm gefallen, wollen nicht ebensolche Prolls werden wie ihre Eltern, sondern Ganoven. Diese Karriere impliziert wie die in der Armee einen Verhaltenskodex, bestimmte Werte und eine Moral, die ihn anziehen. Er will nicht mehr wie sein Vater sein, wenn er groß ist. Er will kein biederes und ein bisschen

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