Limonow (German Edition)
Prinzip der »doppelten Verwaltung«, das auf der Idee beruht, dass man für die Ausführung einer Aufgabe mindestens zwei Menschen braucht: einen, der sie ausführt, und einen, der sicherstellt, dass dieser sie den marxistisch-leninistischen Grundsätzen entsprechend ausführt. Von der Armee ausgehend breitete sich dieses Prinzip auf alle gesellschaftlichen Bereiche aus, und dabei wurde man sich bewusst, dass es noch einen dritten brauchte, um den zweiten zu überwachen, einen vierten, um den dritten zu bewachen, und so weiter.
Wenjamin Sawenko ist ein kleines Rädchen im Getriebe dieses paranoischen Systems. Seine Arbeit besteht darin, zu beaufsichtigen, zu kontrollieren und Bericht zu erstatten. Dies beinhaltet nicht notwendigerweise grausame Repressionsmaßnahmen, da hat Eduard schon recht. Man sah bereits, dass er als einfacher Soldat des NKWD den Krieg als schlichter Wachposten vor einer Fabrik verbrachte. In Friedenszeiten auf den bescheidenen Grad des Unterleutnants befördert, übt er die Funktion eines Natsch-kluba aus, was man mit »Diskobetreiber« übersetzen könnte; in den Kreisen, in denen er Karriere macht, bedeutet es, die Freizeit und das kulturelle Leben von Soldaten zu gestalten, indem man beispielsweise Tanzveranstaltungen zum Tag der Sowjetischen Armee organisiert. Diese Aufgabe passt zu ihm; er spielt Gitarre und singt gern, und auf seine Weise hat er ein Faible für besondere Dinge. Er lackiert sich sogar die Fingernägel mit durchsichtigem Lack: Er ist ein wahrer Dandy, dieser Unterleutnant Sawenko, und er hätte ein interessanteres Leben führen können, urteilt rückblickend sein Sohn, hätte er den Mut gehabt, die strenge Autorität seiner Frau abzuschütteln.
Wenjamins nightclubbing à la NKWD , das ihn ziemlich aufblühen lässt, währt leider nicht lange, denn er lässt sich den Posten von einem gewissen Hauptmann Lewitin wegschnappen, der ohne sein Wissen zum erklärten Feind der Sawenkos wird und in der Privatmythologie Eduards zu einer Hauptfigur: der Intrigant, der schlechter arbeitet, aber erfolgreicher ist als du, und dessen Unverfrorenheit und unverschämtes Glück dich demütigen, und zwar nicht nur vor deinen Vorgesetzten, sondern auch, und das ist viel schlimmer, vor deiner Familie, sodass dein eigener kleiner Sohn zwar treu in die Verachtung der Seinen für Lewitin einstimmt, im Geheimen aber denkt – und er kann nicht anders, selbst wenn er wollte –, dass sein eigener Vater ein bisschen armselig und erbärmlich sei, während Lewitins Sohn doch irgendwie Glück habe. Eduard wird später eine Theorie entwickeln, nach der es im Leben eines jeden einen Hauptmann Lewitin gibt. Sein eigener wird bald auf der Bildfläche erscheinen: mit den Zügen des Dichters Joseph Brodsky.
3
Eduard ist zehn Jahre alt, als Stalin am 5. März 1953 stirbt. Seine Eltern und die Menschen ihrer Generation haben ihr ganzes Leben in seinem Schatten verbracht. Auf alle Fragen, die sie sich stellten, hatte er eine lakonische, barsche Antwort, die keinem Zweifel Raum ließ. Sie erinnern sich an die Tage voller Entsetzen und Trauer, die auf den Angriff der Deutschen 1941 gefolgt waren, und an den Tag, an dem Stalin nach seiner anfänglichen tiefen Mutlosigkeit im Radio sprach. Als er sich an die Männer und Frauen seines Volkes wandte, nannte er sie nicht »Genossen«, sondern »meine Freunde«. »Meine Freunde«: Diese Worte, so ein fach und vertraut, Worte, deren Herzenswärme man vergessen hatte und die inmitten der unermesslichen Katastrophe die Seele streichelten, bedeuteten den Russen so viel wie uns die von Churchill und de Gaulle. Nun ist das ganze Land in Trauer um denjenigen, der sie aussprach. Die Schulkinder weinen, weil sie ihr Leben nicht opfern können, um das seine zu verlängern. Und Eduard weint mit den anderen.
Er ist jetzt ein netter, kleiner, sensibler, ein bisschen kränklicher Junge, der seinen Vater liebt und seine Mutter fürchtet und beiden höchste Zufriedenheit schenkt. Als Gruppenratsvorsitzender seiner Klasse prangt sein Name jedes Jahr auf der Ehrentafel, wie es sich für einen Offizierssohn geziemt. Er liest viel. Seine Lieblingsautoren sind Alexandre Dumas und Jules Verne, die beide in der Sowjetunion äußerst populär sind. In diesem Punkt berühren sich unsere so verschiedenen Kindheiten. Wie für ihn waren meine Vorbilder die Musketiere und der Graf von Monte Christo. Ich träumte davon, Trapper, Forscher oder Seefahrer zu werden – genauer gesagt
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