Limonow (German Edition)
bescheuertes Leben führen, sondern ein freies und gefährliches: Das Leben eines Mannes.
Er macht einen entscheidenden Schritt in diese Richtung, als er sich eines Tages mit einem Jungen aus seiner Klasse prügelt, einem dicken Sibirier namens Jura. Eigentlich schlägt er sich nicht mit Jura, sondern Jura schlägt ihn windelweich. Geschockt und voller Blutergüsse wird er nach Hause gebracht. Seine Mutter, ihren Prinzipien des militärischen Stoizismus treu, bedauert und tröstet ihn nicht, sondern gibt Jura recht, und das ist ganz in Ordnung so, urteilt er, denn dieser Tag verändert sein Leben. Er begreift etwas Grundsätzliches, nämlich dass es zwei Arten von Menschen gibt: die, die man schlagen darf, und die, die man nicht schlagen darf; und die, die man nicht schlagen darf, sind nicht die Stärkeren oder Geübteren, sondern die, welche bereit sind zu töten . Das ist das einzige Geheimnis, und der nette kleine Eduard entscheidet sich, ins zweite Lager hinüberzuwechseln: Er wird ein Mann sein, den man nicht schlägt, weil man weiß, dass er imstande ist zu töten.
Seit Wenjamin nicht mehr Natsch-kluba ist, wird er oft für mehrere Wochen auf Einsatz geschickt. Worin diese Einsätze genau bestehen, ist nicht klar; Eduard, der sein eigenes Leben zu führen beginnt, interessiert sich kaum dafür, doch als Raja eines Tages sagt, sie rechne mit ihm zum Abendessen, denn sein Vater kehre aus Sibirien zurück, hat er die Idee, ihm entgegenzugehen.
Einer Gewohnheit entsprechend, die er nie wieder ablegt, kommt er zu früh. Er wartet. Endlich fährt der Zug Wladiwostok-Kiew in den Bahnhof ein. Die Fahrgäste steigen aus und gehen in Richtung Ausgang; er hat sich so hingestellt, dass er niemanden verfehlen kann, aber Wenjamin taucht nicht auf. Eduard erkundigt sich und lässt sich die Ankunftszeit des Zugs noch einmal bestätigen, bei der man sich umso leichter irren kann, als es zwischen Wladiwostok und Leningrad elf Zeitzonen gibt und auf allen Bahnhöfen die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge nach Moskauer Zeit angegeben werden – auch heute noch ist es Sache des Reisenden, die Zeitverschiebung selber zu berechnen. Enttäuscht schlurft er in dem gewaltigen Getöse, das an den riesigen Glasfenstern des Bahnhofs widerhallt, von einem Bahnsteig zum anderen und die Gleise auf und ab. Ein paar alte Weiber mit Schultertüchern und Filzstiefeln, die ihre Eimer voller Gurken und Preiselbeeren an Reisende zu verkaufen versuchen, keifen ihm nach. Er überquert die Abstellgleise und erreicht den Bereich für Frachtentladung. Und dort, in einer abgelegenen Ecke des Bahnhofs zwischen zwei stehenden Zügen, wird er Zeuge der folgenden Szene: Über eine Holzplanke steigen Männer in Zivil und in Handschellen mit verängstigten Gesichtern aus einem Güterwaggon; Soldaten in Militärmänteln und mit aufgepflanzten Bajonetten stoßen sie schonungslos in einen schwarzen, fensterlosen Lastwagen. Ein Offizier befehligt die Operation. In der einen Hand hält er einen Stoß von Papieren, der mit einer Metallklammer auf einer Unterlage befestigt ist; die andere Hand ruht auf seiner Pistolentasche. Mit scharfer Stimme ruft er Namen auf.
Dieser Offizier ist sein Vater.
Eduard bleibt in seinem Versteck, bis der letzte der Gefangenen in den Lastwagen gestiegen ist. Dann geht er verwirrt und beschämt nach Hause. Wofür schämt er sich? Sicher nicht dafür, dass sein Vater einem monströsen Repressionssystem zu Diensten ist. Er hat nicht die geringste Vorstellung von diesem System, das Wort »Gulag« hat er noch nie gehört. Er weiß, dass es Gefängnisse und Lager gibt, in die man Kriminelle einsperrt, und er wüsste nicht, was man dagegen haben sollte. Nein, was er in diesem Moment erlebt – und missversteht, daher seine Verwirrung –, ist ein Wandel in seinem Wertesystem. Als er klein war, gab es auf der einen Seite die Militärs und auf der anderen die Zivilisten, und auch wenn sein Vater kein Gefecht miterlebt hatte, verdiente er als Militär doch Respekt. Im Code der Jungs von Saltow dagegen, den er sich mehr und mehr zu eigen macht, gibt es auf der einen Seite die Ganoven und auf der anderen die Bullen; und genau in dem Moment, als er das Lager der Ganoven für sich wählt, entdeckt er, dass sein Vater weniger ein Militär ist als ein Bulle, und zwar einer der untersten Kategorie: ein Gefängniswärter, ein Aufseher, ein kleiner Ordnungshüter.
Die Szene hat eine nächtliche Fortsetzung. In dem einzigen Zimmer, das die
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