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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Familie bewohnt, steht Eduards Bett am Fußende desjenigen seiner Eltern. Er erinnert sich nicht, sie jemals beim Sex gehört zu haben, dafür aber lauscht er jetzt folgender Unterhaltung, die mit Flüsterstimme geführt wird, während man ihn schlafend glaubt. Wenjamin erzählt Raja deprimiert, er habe die Verurteilten diesmal nicht von der Ukraine nach Sibirien befördert, wie er es gewöhnlich tut, sondern in umgekehrter Richtung, und zwar ein ganzes Kontingent, das erschossen werden soll. Dieser regelmäßige Wechsel sei eingeführt worden, um die Lagerwächter nicht zu sehr zu verdrießen: Ein Jahr lang erschießt man sämtliche zum Tode Verurteilten der Sowjetunion in einem Gefängnis, im nächsten Jahr in einem anderen. In Büchern über den Gulag habe ich erfolglos nach einer Spur dieser wenig wahrscheinlichen Regel gesucht, aber selbst wenn Eduard seinen Vater falsch verstanden hatte, gingen die Männer, deren Namen dieser beim Verlassen des Waggons aufrief und aus der Liste strich, beim Besteigen des Lastwagens mit Sicherheit dem Tod entgegen. Einer von ihnen, erzählt Wenjamin seiner Frau, habe ihn besonders beeindruckt. Seine Akte trage den bedeutsamen Code »besonders gefährlich«. Er sei ein junger, stets ruhiger und freundlicher Mann, der ein elegantes Russisch spreche und sich in seiner Zelle und im Güterwaggon bemüht habe, jeden Tag seine Turnübungen zu machen. Dieser stoische, kultivierte Todeskandidat wird für Eduard zum Helden. Er beginnt davon zu träumen, ihm eines Tages zu gleichen, selbst ins Gefängnis zu kommen und dort nicht nur arme Schlucker von unterbezahlten Bullen wie seinen Vater zu beeindrucken, sondern auch Frauen, Kriminelle und echte Männer – und wie alles, was er sich als Kind erträumte, wird er es tun.
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    Überall, wo er hinkommt, ist er der Jüngste, der Kleinste und der einzige Brillenträger, aber in der Tasche trägt er immer ein Springmesser bei sich, dessen Klinge länger ist als seine Handfläche, denn das bemisst die Entfernung zwischen Brust und Herz und bedeutet, dass man damit töten kann. Außerdem versteht er zu trinken. Nicht sein Vater hat es ihm beigebracht, sondern ein Nachbar, ein ehemaliger Kriegsgefangener. Eigentlich kann man Trinken nicht lernen, sagt der Kriegsgefangene, man muss mit einer stählernen Leber geboren sein, doch genau das ist bei Eduard der Fall. Nichtsdestotrotz gibt es ein paar Tricks: sich vor dem Besäufnis ein kleines Glas Öl hinunterkippen, um die Röhren zu schmieren (mir erklärte man das Gleiche, meine Mutter hatte es von einem alten sibirischen Priester), und nicht gleichzeitig essen (mir brachte man das Gegenteil bei, ich gebe den Tipp also unter Vorbehalt weiter). Im Vertrauen auf seine angeborenen Gaben und diese Technik ist Eduard imstande, einen Liter Wodka pro Stunde zu leeren, das heißt ein großes Glas mit 250 Gramm alle Viertelstunde. Dieses Gesellschaftstalent erlaubt ihm, selbst Aserbaidschanern zu imponieren, die aus Baku kommen, um Orangen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, und Wetten zu gewinnen, die ihm immerhin ein Taschengeld einbringen. Es befähigt ihn auch, jenen Saufmarathons standzuhalten, welche die Russen Sapoj nennen.
    Sapoj ist eine ernsthafte Angelegenheit und bedeutet nicht, sich wie bei uns einen Abend lang anzusaufen und dafür mit einem Brummschädel am nächsten Morgen zu bezahlen. Sapoj heißt, mehrere Tage lang nicht auszunüchtern, von einem Ort zum anderen zu wanken, in Züge einzusteigen, ohne zu wissen, wohin sie fahren, Zufallsbekanntschaften die intimsten Geheimnisse anzuvertrauen und alles zu vergessen, was man je gesagt oder getan hat: eine Art Reise. So beschließen Eduard und sein bester Freund Kostja eines Abends, als sie zu bechern begonnen haben und der Sprit ihnen ausgeht, in einen Lebensmittelladen einzubrechen. Mit vierzehn Jahren war Kostja, der den Spitznamen »Die Katze« trägt, bereits wegen bewaffneten Raubüberfalls in einer Strafkolonie für Minderjährige. Von der Höhe dieser Autorität herab bringt er seinem Schüler Eduard die goldene Regel des Einbrechens bei: »Tu es mit Mut und Entschlossenheit und warte nicht auf die idealen Bedingungen, denn ideale Bedingungen gibt es nicht.« Besser schaut man schnell nach links und nach rechts, ob niemand auf der Straße vorbeikommt. Man wickelt seine Jacke wie eine Kugel um seine Faust. Mit einem kurzen, harten Schlag bricht man die Scheibe des Kellerfensters ein, und schon ist man drinnen. Es ist dunkel, natürlich

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