Limonow (German Edition)
man von außen natürlich einwenden: Ja, aber was beweist euch, dass es nicht einfach eine Halluzination war? Eine Illusion? Eine Täuschung? Nichts, außer das Wesentliche, das heißt: Wenn man dort gewe sen ist, weiß man, dass es wirklich ist und dass diese Auslöschung und dieses Licht nicht nachzuahmen sind.
Sie berichten noch etwas anderes: Wenn man derart fortgerissen, davongetragen und bis dorthin emporgehoben ist, verspürt man, insofern noch ein Jemand zum Spüren übrigbleibt, etwas wie eine ungeheure Erleichterung. Begehren und Angst, der Grund menschlichen Lebens, sind verabschiedet. Natürlich kehren sie wieder, denn wenn man nicht einer dieser Erleuchteten ist, von denen die Hindus versichern, dass es einen pro Jahrhundert gibt, kann man sich in diesem Zustand nicht einrichten. Aber man hat davon gekostet, was das Leben ohne Begehren und Angst ist, man weiß aus erster Hand, was es heißt, außer Gefahr zu sein.
Dann kommt man wieder herunter. Man hat blitzartig die ganze Dauer der Welt und ihre Aufhebung erlebt, und dann fällt man in die Zeit zurück. Man findet das alte Gespann wieder: Begehren und Angst. Und man fragt sich: »Was mache ich hier?« Nun kann man wie Hervé die folgenden dreißig Jahre damit verbringen, diese unvergleichliche Erfahrung durch Nachdenken zu verdauen. Oder man kann wie Eduard in seine Baracke zurückkehren, sich auf seiner Bettstatt ausstrecken und Folgendes in sein Heft schreiben:
»Ich hatte das von mir erwartet. Keine Strafe kann mich erreichen, ich werde sie in Glück zu verwandeln wissen. Jemand wie ich kann selbst aus dem Tod Genuss ziehen. Ich werde nicht wieder zu den Gefühlen eines gewöhnlichen Mannes zurückkehren.«
Ich habe diese heikle Passage in Hervés Schweizer Berghütte geschrieben, in der wir uns zweimal im Jahr zusammenfinden, um die Berge des Wallis zu durchwandern. Und im Bücherschrank dieser Berghütte fand ich eine Sammlung von Artikeln, die Julius Evola gewidmet sind. Evola, um es kurz zu fassen, war ein italienischer Faschist von großem intellektuellen Format und so wohl Nietzscheaner als auch Buddhist, was aus ihm einen der Helden macht, die von belesenen Faschisten wie Dugin verehrt werden. Aus dem Wust an traditionalistischer Gelehrsamkeit, den man in dieser Sammlung findet, sticht ein schöner Text von Marguerite Yourcenar heraus. Ich habe hier notiert, was mich verblüffte und was ich mir nicht verkneifen konnte, an Eduard weiterzugeben:
»Jede Veruntreuung der durch mentale Disziplinen erworbenen Kräfte zum Nutzen der Gier, des Stolzes oder des Willens zur Macht hebt diese Kräfte nicht auf, aber lässt sie ipso facto in eine Welt zurückfallen, in der jede Handlung in Ketten legt und jedes Übermaß an Kraft sich gegen ihren Besitzer zurückwendet […]. Offenbar hat der Baron Julius Evola, der über die große tantrische Tradition bestens im Bilde war, nie daran gedacht, sich der geheimen Waffe der tibetanischen Lamas zu bedienen: des Dolches-zur-Tötung-des-Ich.«
6
Eduard wird zum Direktor einbestellt. Eine solche Vorladung verheißt für einen Zek erst einmal nichts Gutes. Er hat den Direktor einzig am Tag seiner Ankunft zu Gesicht bekommen, und er hätte es sehr gern dabei belassen. Doch diesmal empfängt ihn dieser für seine Kaltschnäuzigkeit bekannte Mann höflich und kündigt ihm eine der Delegationen an, denen er seine Anstalt so gern präsentiert. Ein Mitglied dieser Delegation, der Berater-des-Präsidenten-in-Menschenrechtsfragen Pristawkin, habe den Wunsch geäußert, den Häftling Sawenko zu treffen. Ob der Häftling Sawenko damit einverstanden sei?
Der Häftling Sawenko kann es nicht fassen. Zum einen, weil man ihn nach seiner Meinung fragt, denn ein Zek hat nicht einverstanden zu sein oder nicht, sondern zu spuren, zum anderen wundert ihn das Interesse dieses Beraters. Pristawkin ist ein Kulturapparatschik und waschechter Gorbatschowianer; Eduard kennt ihn, seit er ihn einmal bei einer Diskussion über die Verbrechen des Kommunismus angriff. Sie hatten sich heftig in die Wolle gekriegt, Eduard hatte ihn als Verräter und Gekauften beschimpft, und in der Folge hatte Pristawkin nicht eine Gelegenheit verpasst, um ihm, dem Faschisten, eins auszuwischen, und schließlich in der Literaturnaja Gaseta geschrieben: »Soll er doch im Gefängnis bleiben, dort ist er am besten aufgehoben.«
Eduard ist also misstrauisch, sowohl, was den guten Mann betrifft, als auch, was den schlechten Eindruck angeht, den dieses
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