Limonow (German Edition)
gerade komponiert hat:
Irgendwo spaziert jetzt
meine Nataschenka
barfuß durch einen lauen Regenschauer.
Oben auf einer Wolke
spielt der liebe Gott mit einem Fleischmesser,
das schimmert auf ihrem Gesicht.
Ba-da-da-da! Bum-bum-bum-bum!
singt Natascha nackt.
Sie kommt mit ihren vollen Lippen näher,
Sie schwingt ihre großen, toten Hände hin und her,
Sie öffnet ihre langen, toten Beine einen Spalt
Sie eilt zum Paradies,
mit nacktem, tropfnassen Körper.
4
Mit ihren in adretten Farben gestrichenen Holzzäunen anstelle von Stacheldraht, ihren Rosenhecken und ihren Waschbecken à la Philippe Starck ist die Strafkolonie Nummer 13 in Engels genau jenes Arbeitslager, von dem ich zu Beginn dieses Buches sprach, das man Menschenrechtler besichtigen lässt, um sie von den Fortschritten bei den Haftbedingungen in Russland zu überzeugen. Ähnlich schloss H. G. Wells 1932 während der größten Hungersnot, die Bauern sogar ihre Kinder töten ließ, aus dem exzellenten Essen, das man ihm in Kiew servierte, man esse in der Ukraine doch sehr gut. Im Milieu der russischen Sträflinge hat Engels allerdings einen so schlechten Ruf, dass manche sich in der Hoffnung, nicht dort zu landen, selbst ver stümmelten. Eduard ist dennoch der Meinung, Glück gehabt zu haben; in der Tat muss man sagen, dass er noch einmal davongekommen ist: Zwei Monate, nachdem der Staatsanwalt Werbin vierzehn Jahre für ihn forderte, verurteilte ihn der Richter zu vier Jahren, und die Hälfte davon hat er schon abgesessen. Nur noch zwei Jahre, nachdem man sich schon auf zwölf eingestellt hat, das ist wie ein Wunder; und mehr denn je zuvor ist er entschlossen, sich unauffällig zu benehmen und keine Angriffsfläche für die Schikanen zu bieten, zu denen sich die Offiziere und Gefängniswärter durch seine Berühmtheit herausgefordert fühlen könnten. Er weiß, dass ein schlecht gelaunter Typ einem jederzeit in den Rücken fallen und unter jedem beliebigen Vorwand eine zusätzliche Woche Knast oder Schlimmeres aufbrummen kann. Unter den Schreckensgeschichten, die in Engels kursieren, gibt es eine über einen Häftling, der am Vorabend seiner Entlassung das Pech hatte, auf einen betrunkenen Unteroffizier zu stoßen. Der betrunkene Unteroffizier befand ihn für schlecht rasiert, und aus einer Laune heraus und um zu zeigen, wer der Chef ist, verlängerte er seine Strafe um ein Jahr. Einfach so, aus reiner Willkür, in einem lagerinternen Verfahren – und danach mag man sich an den Richter wenden, soviel man will: Bis der Richter die Entscheidung aufhebt, bleibt genug Zeit, um sich einen Nachschlag von weiteren zehn Jahren einzufangen. Deshalb arbeitet Eduard in Engels daran, sich unsichtbar zu machen, und da sein großes Talent im Leben darin besteht, aus allem, was ihm begegnet, einen Nutzen zu ziehen, braucht er nicht lange, um diese Übung interessant zu finden.
Lefortowo und Saratow haben einen Gefängnisexperten aus ihm gemacht, doch was die Lager betrifft, ist er ein Grünschnabel, und er entdeckt, dass sich die Situation des Zeks seit Solschenizyns Beschreibungen kaum verändert hat. Wie der Tag von Iwan Denissowitsch beginnt der von Eduard Wenjaminowitsch um 5 Uhr 30, wenn die Wecksirene heult. Eigentlich beginnt er sogar etwas früher, denn er wacht selbst um 5 Uhr auf. Während alle anderen in der Baracke noch schnarchen, beobachtet er allein, wie eine Grabfigur unter seiner Decke liegend, seinen Atem. Dieser Moment gehört nur ihm, er mag und genießt ihn. Er hat keine Uhr, und er braucht auch nicht nach der Zeit zu schauen, um auf die Minute genau zu wissen, wie viel ihm noch bleibt, bis sich alle klar zum Gefecht machen. Wenn dieser Moment naht, fühlt er sich wie ein Motor, der auf den Zündschlüssel wartet. Und dann dröhnt die Sirene, die Schließer schreien und fluchen herum, die aus den oberen Bettstellen fallen auf die in den unteren herab, man schnauzt sich an, und los geht’s.
Zuerst macht die ganze Baracke eine Zigarettenpause im Hof und stürmt zu den Toiletten. Da Eduard einer der wenigen ist, der nicht raucht, nutzt er die Gelegenheit, um an der Spitze des Zugs scheißen zu gehen. Auch wenn seine Verdauung von beispielhafter Regelmäßigkeit ist, hat er bemerkt, dass seine Scheiße hier mehr stinkt als draußen und selbst als im Gefängnis. Er hat auch bemerkt: Während die Scheiße der Zeks stinkt, riechen ihre Mülltonnen nach nichts. Denn außer Zigarettenkippen enthalten sie nichts Organisches, denn alles
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