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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Hauptakteur des organisierten Verbrechens geworden oder habe sich bei einem terroristischen Attentat selbst in die Luft gesprengt. Man denkt an ihn zurück, wühlt in eigenen Erinnerungen und versucht, sich die Verkettung von Umständen und persönlichen Motiven zusammenzureimen, die sein Leben so weit von dem unseren weggeführt hatten. Im Jahr 2001 erfuhren wir, dass Limonow verhaftet und verurteilt worden war und man ihn aus reichlich obskuren Gründen, bei denen von Waffenhandel und einem versuchten Staatsstreich in Kasachstan die Rede war, ins Gefängnis gesteckt hatte. Untertrieben gesagt haben wir uns in Paris nicht gerade überschlagen, um Petitionen für seine Freilassung zu unterzeichnen.
    Ich wusste nicht, dass er aus dem Gefängnis entlassen worden war, und ich war vor allem überrascht, ihn an diesem Ort wiederzufinden. Er machte weniger auf Rocker als damals und wirkte eher intellektuell, aber er hatte immer noch dieselbe markige und willensstarke Aura, und sie war selbst auf hundert Meter Entfernung zu spüren. Ich zögerte, ob ich mich in die Schlange der Leute einreihen sollte, die offensichtlich bewegt waren von seiner Anwesenheit und zu ihm gingen, um ihn zu begrüßen. Doch für einen Augenblick kreuzte sein Blick den meinen, und da er mich nicht zu erkennen schien und ich wiederum nicht recht wusste, was ich ihm hätte sagen sollen, ließ ich es bleiben.
    Verwirrt von dieser Begegnung ging ich zurück ins Hotel, wo eine neue Überraschung auf mich wartete. Beim Durchblättern einer Artikelsammlung von Anna Politkowskaja entdeckte ich, dass sie zwei Jahre zuvor den Prozess von neununddreißig Aktivisten der Nationalbolschewistischen Partei verfolgt hatte, die angeklagt waren, mit Rufen wie »Putin, verschwinde!« den Sitz der Präsidialverwaltung überfallen und demoliert zu haben. Für diese Tat hatten sie hohe Gefängnisstrafen aufgebrummt bekommen – und Politkowskaja verteidigte sie lautstark als junge, mutige und unbestechliche Menschen, die mehr oder weniger die Einzigen seien, die noch Vertrauen in die moralische Zukunft des Landes vermittelten.
    Ich konnte es nicht fassen. Mir war der Fall eindeutig und rettungslos verloren erschienen: Limonow war ein grauenhafter Faschist an der Spitze einer Miliz von Skinheads. Und nun sprach eine Frau, die seit ihrem Tod einmütig als Heilige angesehen wird, von ihm und den seinen als von Helden des demokratischen Kampfs in Russland! Und im Internet fand ich dieselben Töne seitens Elena Bonner. Elena Bonner! Der Witwe von Andrei Sacharow, dem großen Gelehrten, dem großen Dissidenten, moralischen Gewissen und Friedensnobelpreisträger! Auch sie hielt viel von den Nazboly  – so nennt man in Russland die Mitglieder der Nationalbolschewistischen Partei, wie ich bei dieser Gelegenheit erfuhr. Sie sollten vielleicht darüber nachdenken, den Namen ihrer Partei zu ändern, sagte sie, denn für manche Ohren höre er sich übel an, aber ansonsten seien es tolle Leute.
    Einige Monate später erfuhr ich, dass unter dem Namen Drugaja Rossija , Das andere Russland, ein politisches Bündnis entstanden war, das von Garri Kasparow, Michail Kassjanow und Eduard Limonow angeführt wurde – das heißt von einem der größten Schachspieler aller Zeiten, einem ehemaligen Premierminister Putins und einem nach unseren Maßstäben anrüchigen Schriftsteller – ein seltsames Gespann. Ganz offensichtlich hatte sich etwas geändert, vielleicht nicht Limonow selbst, aber auf jeden Fall die Rolle, die er in seinem Land spielte. Und als Patrick de Saint-Exupéry, den ich als Korrespondenten des Figaro in Moskau kennengelernt hatte, mir von einem neuen Reportagemagazin berichtete, dessen Erscheinen er vorbereitete, und mich fragte, ob ich ein Thema für die erste Nummer wisse, antwortete ich ohne weiter nachzudenken: Limonow. Patrick schaute mich mit großen Augen an: »Limonow ist ein kleiner Gauner.« Ich antwortete: »Ich weiß nicht, man müsste sich das mal genauer anschauen.«
    »Gut«, unterbrach mich Patrick, ohne weitere Erklärungen zu verlangen, »schau es dir an.«
    Ich brauchte eine ganze Weile, um seine Spur wiederzufinden und über Sascha Iwanow, einen Moskauer Verleger, an seine Handynummer zu gelangen. Und als ich die Nummer besaß, brauchte ich nochmals eine Weile, bis ich sie wählte. Ich zögerte, welchen Ton ich anschlagen sollte, nicht nur ihm gegenüber, sondern auch für mich selbst: War ich ein alter Freund oder ein argwöhnischer Ermittler? Sollte

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