Linda Lael Miller
beschäftigen, und morgen
würde er dann weitersehen ...
Am
nächsten Morgen erwachte
Katherine in einem Zimmer, das von Sonnenlicht durchflutet war. Als Maria ihr
heißes Wasser brachte, hatte Katherine den kleinen Christopher bereits
gewickelt und gefüttert, und Mutter und Kind saßen in einem Schaukelstuhl am
Fenster und bewunderten die herrliche Aussicht auf den Garten.
»Sie hätten
noch nicht aufstehen sollen, Mrs. Winslow«, sagte Maria in ihrem gewohnten,
ausdruckslosen Ton. »Unsinn«, erwiderte Katherine. »Es ist ja schließlich nicht so,
als wäre ich operiert worden«, sagte sie, hob Christopher auf und küßte seine
Stirn. »Ein Kind zur Welt zu bringen ist etwas ganz Natürliches, und je früher
ich aufstehe und mich bewege, desto besser.«
Maria
stellte die Kanne mit dem Wasser auf den Waschtisch und legte einen
Waschlappen aus Damast bereit, ein flauschiges Handtuch und ein Stück Seife,
das so stark duftete, daß Katherine es von ihrem Platz aus riechen konnte. »Wie
Sie meinen, Mrs. Winslow«, erwiderte Maria achselzuckend. »Ich hole Ihren Tee,
während Sie sich waschen, und Miss Marianne meinte, Sie sollten etwas essen.
Soll ich Ihnen das Baby abnehmen, bis Sie fertig sind?«
Katherine
übergab ihr ihren Sohn, wenn auch widerstrebend, und Maria legte ihn in die
Wiege. »Tee wäre schön, aber frühstücken werde ich in der Küche, im Eßzimmer
oder wo alle anderen ihre Mahlzeiten zu sich nehmen. Ich bin es allmählich
leid, in diesem Zimmer eingesperrt zu sein.« Sie goß etwas von dem heißen
Wasser, das Maria ihr gebracht hatte, in die Porzellanschüssel, die zum Waschen
diente, und griff nach Seife und Waschlappen. »Sagen Sie, Maria, wieso
sprechen Sie eigentlich so korrekt?«
Maria, die
schon auf dem Weg zur Tür war, blieb noch einmal stehen und schaute sich nach
Katherine um. »Sie meinen, warum ich nicht wie eine Indianerin spreche?«
Katherine
errötete. Es war nicht ihre Absicht gewesen, herablassend zu erscheinen, aber
Maria mußte es so aufgefaßt haben. »Ja«, gab sie ehrlich zu. »Darüber habe ich
mich schon oft gewundert.«
Zum ersten
Mal, seit sie sich kannten, lächelte Maria. »Meine Stiefmutter war eine Weiße
und arbeitete als Lehrerin, bis sie meinen Vater heiratete. Sie lehrte mich > Boston-Englisch < , aber ich habe die Sprache meines Volkes nicht
vergessen. Sie ist etwas sehr Kostbares für mich.«
»Unglücklicherweise«,
sagte Katherine mit einer Gedankenlosigkeit, die keine Absicht war, »wird der
indianische Lebensstil in den kommenden Jahren fast voll kommen verschwinden.«
Erst als Katherine im Wandspiegel Marias bestürzte Miene sah, begriff sie, daß
sie einen Fehler gemacht hatte.
Maria
senkte für einen Moment den Kopf, aber als sie wieder zu Katherine aufschaute,
lag ein stolzer, herausfordernder Blick in ihren Augen. »Der indianische
Lebensstil wird immer weiterleben, in der Sicherheit unserer Herzen«, erklärte
sie ruhig.
Katherine
spülte die Seife ab und trocknete dann Gesicht und Hände gründlich mit dem
bereitliegenden Handtuch, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Schließlich
drehte sie sich um und schaute Maria an. »Ja«, sagte sie. »Vielleicht ist das
die einzige Hoffnung für all unsere Traditionen – die Erinnerungen unserer
Kinder.«
Maria
schluckte sichtlich, schaute zu Christopher hinüber und nickte ernst. »Die
alten Gebräuche und Geschichten sind zu kostbar, um in Vergessenheit zu geraten.
Sie sind ein Teil dessen, was wir sind.«
»Ja«,
antwortete Katherine ohne Zögern. »Ich werde alles aufschreiben, woran ich mich
erinnere, jedes einzelne Detail.« Abgesehen davon, daß sie Christopher zur Welt
gebracht hatte, hatte sie nichts Sinnvolles getan, seit sie so unversehens im
neunzehnten Jahrhundert gelandet war. Das Mindeste, was sie tun konnte, war,
eine Art Bericht über ihre Erfahrung zu verfassen. Vielleicht würde dann irgend
jemand – irgendwann – ihrer Erzählung Glauben schenken.
Ein
ausgedehntes Schweigen entstand, während Maria zögernd an der Tür stand und
Katherines Blick vermied. Als sie sich endlich zu Worten durchgerungen hatte,
sagte sie: »Meine Stiefmutter wollte mir helfen, die alten Legenden
aufzuschreiben, aber wir dachten immer, es bliebe uns noch sehr viel Zeit
dafür. Und vor zwei Jahren erkrankte sie dann an Cholera und starb.«
»Das tut
mir leid«; sagte Katherine aufrichtig. Sie wußte, wie es war, eine Mutter zu
verlieren. Erinnerungen bedrängten sie – an gewachste Linoleumböden,
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