Lindenallee
„du kümmerst dich um die Verladung. Wir treffen uns dann wieder hier.“
Mein Vater nickte und gab den Viehtreibern Anweisungen. Ich hielt einen Moment inne und schmunzelte. Mein Vater bewegte sich irgendwie breitbeiniger, männlicher und fühlte sich in seiner Rolle sichtlich wohl. In Deutschland hatte ich ihn nur in Anzügen gesehen, jetzt lief er in einem verstaubten langen Mantel umher, der locker im Wind wehte und unter dem die dunklen Stiefel mit den silbernen Sporen hervorlugten.
„ Friedrich? Kommst du?“ Karl marschierte bereits in Richtung Post los.
„Ich bin schon unterwegs“, schloss ich zu ihm auf. Ich hielt neben ihm Schritt, in meinem Kopf wirbelten die Gedanken wie die weißen Flöckchen in einer Schneekugel umher. Endlich konnte ich meine Briefe an Magarete senden und ihr alles erklären. Erleichterung durchströmte mich, die Zeit des Wartens war vorüber.
Wir überquerten die staubige Straße und schritten direkt auf ein kleines Gebäude zu, dessen Fenster von außen vergittert waren. Das wunderte mich zunächst, bis ich beim Betreten des Gebäudes feststellte, dass hier auch die Bank untergebracht war. In dem kleinen Raum gab es zwei Schalter, vor denen ein paar Menschen standen und geduldig darauf warteten, an die Reihe zu kommen. Wir stellten uns in der linken Schlange an, die langsam nach vorne rückte. Als wir an der Reihe waren, legte ich dem Mann am Schalter meinen Stapel Briefe auf den Tresen. Ich suchte den Blick von Karl, damit er übersetzte.
„ Die Briefe gehen alle an ein und dieselbe Adresse nach Deutschland“, sagte ich. Ich meinte meine Stimme zitterte ein wenig.
Karl trat einen Schritt vor und übersetzte für mich. Der ältere Mann hinter dem Schalter erschien mir vorher schon nicht sympathisch, wie er mich anstarrte, aber jetzt verfinsterte sich sein Gesicht, es wurde sogar feindselig.
Irritiert sah ich Karl hilfesuchend an. „Was ist denn los?“
Karl fragte den Mann. Der schien förmlich aus der Haut zu fahren und brüllte etwas. Erschrocken wich ich zurück. Die Leute hinter uns hielten plötzlich großen Abstand zu uns.
„ Was ist los?“, wiederholte ich verunsichert meine Frage.
Karl drehte sich zu mir um, in seinen Augen stand das blanke Entsetzen geschrieben. Er rang um Fassung, wobei ihm sein Gesicht entgleiste. Dann sprach er zu mir, aber es war so leise, ich musste mich anstrengen, es zu verstehen.
„ Es ist Krieg. Deutschland ist in Polen eingefallen.“
„ Oh“, entrann es meiner Kehle merkwürdig fremd. Es war das geschehen, was meine Eltern bereits bei der Abreise aus Deutschland befürchtet hatten. Aber was bedeutete das für mich? Konnte ich die Briefe nun nicht mehr verschicken? Wie es wohl Magarete ging? Auf dem Dorf war sie bestimmt sicher, flüsterte mir eine Stimme zu, die mich beruhigen wollte.
Mit offen stehendem Mund sah ich von Karl zu dem Mann hinter dem Schalter. Ich verstand nicht, warum er uns derart angeschrien hatte.
Völlig überraschend nahm Karl die Briefe vom Tresen, packte meinen Arm und drängte mich nach draußen.
„ He“, protestierte ich ärgerlich. „Ich muss die Briefe nach Deutschland schicken.“ Ich versuchte ihm das Bündel aus der Hand zu entreißen, aber flink hielt er es zur Seite, so dass ich nicht herankam.
Vor der Tür stopfte Karl mir die Briefe in die Jackentasche. Dann nahm er mich mit beiden Händen an der Schulter, beugte sich ein wenig zu mir hinab und sprach eindringlich auf mich ein.
„ Ich weiß, dir sind die Briefe wichtig. Der Mann hinter dem Schalter wird sie aber niemals annehmen.“
„ Warum?“, schrie ich ihn wütend an. Mein Herz klopfte laut. So kurz vor dem Ziel sah ich mich unendlich weit davon entfernt. Karl blieb trotz meiner Wut gefasst.
„ Der Mann ist Pole. Verstehst du nicht? Hitler-Deutschland ist in Polen eingefallen. Der Mann wird niemals zulassen, dass du Briefe in das Land schickst, das seine Heimat angegriffen hat!“
Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ich wollte es nicht wahrhaben was Karl sagte. Im Innersten wusste ich, dass er Recht hatte. Fieberhaft suchte ich nach einem Ausweg.
„ Was ist mit dem Hafen? Ich frage direkt bei einem Schiff nach, ein Matrose, irgendwer wird sie schon mitnehmen.“
Betrübt sah Karl mich an und schüttelte den Kopf. „Der Hafenmeister ist der Bruder von dem Post-Mann.“
„ Das kann doch nicht sein! Das ist so eine Ungerechtigkeit. Ich will doch nur meiner Magarete zeigen, dass ich an sie denke und sie vermisse.
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