Lindenallee
Nachdem Friedrich von uns gegangen ist, hatte sie ihren Lebensinhalt verloren.“ Luise zögerte einen Moment. „Ich kann sie sogar verstehen“, fuhr sie bedrückt fort.
Danach herrschte Schweigen. Sie hingen ihren Gedanken nach, die sie bis spät in die Nacht verfolgen würden.
38
Paula starrte dumpf gegen die weiße Decke. Die Wirkung der Beruhigungsspritze verflüchtigte sich. Ernüchternd holten sie die Eindrücke des vorherigen Tages mit voller Wucht ein. Wie eine große, dunkle Welle, brachen Erinnerungen und Gefühle über sie zusammen.
Die stille Wohnung, das dämmrige Licht, Magarete, wie sie auf dem Sofa lag, als ob sie schlief. Das Bild stand ihr lebhaft vor Augen und vermischte sich mit einer Erinnerung aus ihrer Kindheit. Ihre Mutter hatte ihr oft aus einem Märchenbuch vorgelesen. In dem Märchen wurde die schlafende Prinzessin durch den Kuss des Prinzen zum Leben wieder erweckt. Als Kind fand sie das Märchen wunderschön, als Erwachsene kam es ihr falsch und verlogen vor. Magaretes Prinz konnte sie nicht mehr zum Leben erwecken. Niemand konnte das. Ihr Hals schnürte sich zu, die Tränen wollten fließen, aber etwas verhinderte es und ließen sie schmerzlich in ihrem Kopf pochen.
Wütend warf sie sich auf die andere Seite. Warum hatte Magarete das getan? Warum hatte sie nicht weiterleben wollen? Es gab doch so vieles, wofür es sich zu leben lohnte. Sie verschloss sich damit der Einsicht, dass in Magaretes Augen ein Leben ohne Friedrich nicht mehr lebenswert war. Schlagartig richtete sie sich im Bett auf, nahm ihr Kopfkissen und schlug hinein. Ihre Wut verrauchte nicht, sie wuchs sogar. Wieder hieb sie auf das Kissen ein. Aufgebracht starrte sie in die Kuhle, die sich gebildet hatte und trotzig ihren Blick zu erwidern schien.
Luise lag nebenan auf dem Sofa und vernahm die Geräusche aus dem Schlafzimmer. Paula war also wach. Vorsichtig streckte sie sich. Zum Sitzen war es bequem, zum Schlafen auf keinen Fall. In der Nacht war sie wiederholt aufgestanden, um nach Paula zu sehen. Am Morgen war sie erschöpft eingeschlafen. Ihre Knochen knackten leise, als sie sich mühsam aufrichtete.
Im Flur bewegten sich die tapsenden, nackten Füße von Paula ins Badezimmer. Nach einem Wasserrauschen gingen sie zurück ins Schlafzimmer.
Luise erhob sich. Der Rücken tat ihr weh, sie stützte die Hände in den Seiten ab und überquerte humpelnd den Flur. Die Tür zum Schlafzimmer stand weit offen. Paula lag tief unter der Bettdecke verkrochen, wie ein verschrecktes Kind. Luise fühlte sich in die Zeit zurückversetzt, als sie ihre Tochter gegen Spinnen und Ungeheuer unterm Bett beschützt hatte. Wie konnte sie Paula vor den Grausamkeiten des Lebens beschützen?
„Hallo meine Kleine. Wie geht es dir?“
„Schlecht.“
„Möchtest du reden, das hilft ...“
Paula unterbrach ihre Mutter durch energisches Kopfschütteln. „Ich möchte nicht reden. Ich möchte meine Ruhe haben und alleine sein.“ Paula wusste, dass sie ihrer Mutter damit vor den Kopf stieß. Sie konnte nicht anders, irgendetwas in ihr rebellierte und war unter keinen Umständen bereit, auf gute Worte zu reagieren.
„Aber Paula, ...“
„Nein, ich meine es ernst. Ich will alleine sein. Bitte respektiere das.“ Es klang hart in ihren eigenen Ohren. Sie würde sich bald dafür schämen und sich bei ihrer Mutter entschuldigen müssen.
Luise zuckte verletzt zurück. Ihr Gesicht wurde starr wie eine Maske, die versuchte, ihre Gefühle zu verbergen, aber ihre Stimme verriet sie. „Nun gut, ich rufe dich heute Abend an, ja?“ Es klang brüchig und verletzt.
Paula antwortete nicht, sondern drehte ihr demonstrativ den Rücken zu.
Ohne ein weiteres Wort packte Luise ihre Sachen zusammen und verließ die Wohnung. Sie ärgerte sich über Paula. Zu ihr war kein Durchkommen und wenn sie noch mehr bedrängt wurde, würde sie komplett dicht machen. Seufzend schloss Luise die Wohnungstür. Ich muss mich zusammenreißen, gestand sie sich ein, es geht hier nicht um mich und meine verletzten Muttergefühle, es geht um Paula. Sie musste Steffen anrufen, vielleicht konnte er mehr erreichen.
„Aber erst mal brauche ich Walter, der mich nach Hause fährt.“ Luise blieb vor der Wohnungstür von Magarete stehen. Beinahe mit schlechtem Gewissen gedachte sie einen Moment der Toten und daran, wie egoistisch sie ihre Mutter-Tochter-Gefühle ausgelebt hatte.
Sie spürte einen Luftzug und erschrak. Hatte Magarete sie gehört?
„Ich kann Sie nach Hause
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