Lindenallee
mit allen Höhen und Tiefen leben und genießen. Das Ende kommt ganz sicher, aber das, was bis dahin mit uns geschieht, und was wir daraus machen, liegt in unserer Hand. Und wir sollten das Beste daraus machen.“
36
„Hallo Günther. Das ist eine Überraschung, dich zu sehen.“ Paula lehnte im Türrahmen und blinzelte in die Sonne. Der gutgelaunte Rentner putze im Garten sein Fahrrad. Der hintere Reifen und die Speichen funkelten und reflektierten die Sonne, das vordere zeigte sich in einer matten Matschfarbe.
„Würdest du nicht so viel Arbeiten und unterwegs sein, könntest du mich häufiger antreffen.“ Ein Lächeln umspielte sein gebräuntes Gesicht.
„Ja, das ist wohl wahr. Wenn ich mal in Rente bin, dann habe ich mehr Zeit.“
„Dann bin ich schon längst unter der Erde.“
„Ach was, das glaube ich nicht. Du überlebst uns doch alle.“
Statt einer Antwort grunzte er nur, während Paula auf der Stelle verharrte und ihn bei seiner Arbeit beobachtete.
„Paula, da ist ein Schwamm. Du kannst gerne helfen.“
Paula zögerte einen Moment. „Warum eigentlich nicht?“ Sie griff sich den gelben Schwamm und begann den verkrusteten Schlamm vom Tretlager abzuwischen.
„Ach, was ich dich noch fragen wollte: wann kommt Magarete eigentlich wieder?“
Günther hielt in der Bewegung inne und warf Paula einen seltsamen Blick zu. „Wieso fragst du mich das?“
Paula reagierte verblüfft. „Ich verstehe nicht. Magarete wollte nach Lucklum, um dort die Wohnung von Friedrich aufzulösen. Nach ein paar Tagen wollte sie zurück sein.“
„Und?“
„Du wolltest sie fahren.“
Günther quälte sich aus seiner knienden Position nach oben. Von oben herab, blinzelte er Paula verständnislos an. „Was erzählst du denn da? Ich weiß nichts davon. Und ich müsste es doch wissen, wenn ich sie gefahren hätte, oder?“
Paula beschlich ein ungutes Gefühl. Hier war etwas faul. Magarete hatte ihr gesagt, sie würde von Günther nach Lucklum gefahren, dort wollte sie ein paar Tage bleiben. Aber er hatte sie nicht gefahren. Das bedeutete, Magarete hatte sie angelogen. Der Gedanke schoss ihr heiß durch den Kopf. Magarete hatte sie wissentlich angelogen. Magaretes Aktion mit dem Aufräumen der Wohnung, die Kartons, die überall herumstanden. Sie hatte aufgeräumt, hatte sie gesagt, um sich abzulenken. Das war gelogen! Wenn das gelogen war, dann …
Paula sprang auf, der Schwamm fiel achtlos zu Boden. Ihr Gesicht war leichenblass geworden. Günther erschrak, als er ihre vor Schreck geweiteten Augen sah.
„Paula, du machst mir Angst. Was ist los? Spricht mit mir!“
Paula schüttelte den Kopf und rannte auf einmal wie vom Teufel besessen ins Haus. Sie spurtete die Treppen hoch und griff sich blind den Wohnungsschlüssel von Magarete aus ihrer Wohnung. Ohne ihre Tür zu schließen, sprang sie die Treppe herunter und bremste knapp vor Magaretes Tür. Sie war so aufgeregt, dass sie einen Moment brauchte, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen.
Endlich sprang die Tür auf. Paula trat nicht gleich ein, sie stand abwartend auf der Türschwelle. Nichts zu hören. Sie überquerte die Schwelle und augenblicklich umfing sie erdrückende Stille, die Luft roch verbraucht und muffig. Irgendein anderer Geruch mischte sich darunter, ohne dass sie wusste, was es sein konnte. Der Flur lag in dämmriges Licht getaucht und ließ nicht erkennen, ob Magarete zu Hause war.
Paula verharrte und lauschte. Es war rein gar nichts zu hören. Nicht einmal das Ticken der großen Standuhr aus dem Wohnzimmer. Zögerlich ging sie weiter.
„Magarete?“
Keine Antwort.
Günther folgte ihr im kurzen Abstand, nervös fingerte er an seinem Kragen. Ihm war nicht wohl in seiner Haut.
Paulas Anspannung ließ ihr die Knie zittern. Sie stützte sich an der Flurkommode ab, holte tief Luft, ehe sie die Kraft fand, ihren Weg fortzusetzen. Die Wohnzimmertür war angelehnt, gespenstische Stille empfing sie, als sie diese mit den Fingern langsam aufdrückte.
„Magarete?“, wimmerte ihre Stimme schwach, „bist du da?“
Sie stupste die Tür ganz auf. Sie schwang nach innen und kam durch die Wand zum Stehen. Das Geräusch hallte erschreckend laut in der Wohnung nach.
Paula nahm weder die fein säuberlich aufgestapelten Kartons an der Wand wahr, noch die zugezogenen Vorhänge oder die welken Blumen auf dem Tisch. Sie bemerkte allenfalls flüchtig die große Standuhr, die mit einem Tuch abgehängt war und keinen Laut von sich gab.
Ihr Blick heftete
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