Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
ist heiß, Brot, Ration, laß mir was zu rauchen – mit zwei Dutzend Wörtern kam ich schon seit Jahren aus. Die Hälfte dieser Wörter waren Flüche. In meiner Jugend, in meiner Kindheit gab es einen Witz, wo ein Russe von einer Reise ins Ausland berichtet und mit nur einem Wort in unterschiedlichen Intonationen auskommt. Der Reichtum der russischen Flüche, ihre unerschöpfliche Grobheit eröffnete sich mir nicht in der Kindheit und nicht in der Jugend. Der Witz mit dem Schimpfwort wirkte hier wie die Sprache einer Pensionatsschülerin. Doch ich suchte nicht nach anderen Worten. Ich war glücklich, nicht nach irgendwelchen anderen Worten suchen zu müssen. Ob diese anderen Worte existierten, wußte ich nicht. Diese Frage konnte ich nicht beantworten.
Ich war erschrocken, überwältigt, als in meinem Hirn, hier – ich erinnere mich deutlich daran, unter dem rechten Scheitelbein –, ein Wort entstand, das vollkommen untauglich war für die Tajga, ein Wort, das ich selbst nicht verstand, ebensowenig wie meine Kameraden. Ich brüllte dieses Wort, auf der Pritsche stehend, an den Himmel gewandt, an die Unendlichkeit:
»Sentenz! Sentenz!«
Und lachte los.
»Sentenz!«, brüllte ich geradewegs in den nördlichen Himmel, in die zweifache Himmelsröte, ich brüllte, ohne die Bedeutung des in mir entstandenen Worts noch zu verstehen. Doch wenn dieses Wort zurückgekehrt, neu erworben ist – um so besser, um so besser! Eine große Freude erfüllte mein ganzes Wesen.
»Sentenz!«
»Ein Spinner!«
»Wirklich ein Spinner! Bist du Ausländer, oder was?«, fragte giftig der Bergingenieur Wronskij, derselbe Wronskij. »Drei Tabakkrümel«.
»Wronskij, gib mir was zu rauchen.«
»Nein, ich habe nichts.«
»Gib wenigstens drei Tabakkrümel.«
»Drei Tabakkrümel? Bitte sehr.«
Aus dem machorkagefüllten Tabaksbeutel wurden mit dem schmutzigen Fingernagel drei Tabakkrümel gezogen.
»Ausländer?« Die Frage überführte unser Schicksal in die Welt der Provokationen und Denunziationen, Untersuchungen und Haftverlängerungen.
Aber Wronskijs provozierende Frage war mir egal. Der Fund war zu gewaltig.
»Sentenz!«
»Wirklich ein Spinner.«
Bitterkeit ist das letzte Gefühl, mit dem der Mensch ins Nichts geht, in die tote Welt. Wirklich tot? Selbst der Stein erschien mir nicht tot, ganz zu schweigen vom Gras, den Bäumen, dem Fluß. Der Fluß war nicht nur Verkörperung des Lebens, nicht nur Symbol des Lebens, sondern auch das Leben selbst. Seine ewige Bewegung, das nicht verstummende Tosen, ein eigenes Gespräch, eine eigene Mission, die das Wasser durch den widrigen Wind abwärts strömen, sich durch Felsen schlagen und Steppen und Wiesen durchqueren läßt. Der Fluß, der das von der Sonne ausgetrocknete, entblößte Bett verläßt und sich als kaum erkennbares Wasserfädchen irgendwo durch die Steine den Weg bahnt, seiner ewigen Pflicht gehorchend, als schmaler Bach, der schon keine Hoffnung mehr hat auf die Hilfe des Himmels – auf den rettenden Regen. Das erste Gewitter, der erste Regenguß – und das Wasser kehrt zurück in sein Bett, reißt Felsen nieder, wirft Bäume empor und stürmt rasend bergabwärts auf seinem ewigen Weg ...
Sentenz! Ich glaubte mir selbst nicht, fürchtete beim Einschlafen, daß dieses zu mir zurückgekehrte Wort über Nacht verschwindet. Doch das Wort verschwand nicht.
Sentenz. So sollen sie das Flüßchen nennen, an dem unsere Siedlung stand, unsere Außenstelle »Rio-rita«. Wieso ist das besser als »Sentenz«? Der schlechte Geschmack der Herren dieses Landes, der Kartographen, hat in die Karten der ganzen Welt Rio-rita eingeführt. Und korrigieren kann man es nicht.
Sentenz – etwas Römisches, Festes, Lateinisches war in diesem Wort. Das Alte Rom war für meine Kindheit die Geschichte eines politischen Kampfes, der Kämpfe der Menschen, und das Alte Griechenland war das Land der Kunst. Obwohl es auch im Alten Griechenland Politiker und Mörder gab, und im Alten Rom gab es nicht wenige Menschen der Kunst. Aber meine Kindheit hat diese beiden sehr unterschiedlichen Welten radikalisiert, simplifiziert, verengt und getrennt. Sentenz ist ein römisches Wort. Eine Woche lang verstand ich nicht, was das Wort »Sentenz« bedeutet. Ich flüsterte dieses Wort, schrie es, erschreckte und belustigte meine Nachbarn damit. Ich forderte von der Welt, vom Himmel eine Auflösung, Erklärung, Übersetzung ... Und nach einer Woche begriff ich – und zuckte zusammen vor Angst und Freude. Vor
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