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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Angst, weil ich mich fürchtete vor der Rückkehr in jene Welt, in die es für mich kein Zurück mehr gab. Vor Freude, weil ich sah, daß das Leben zu mir zurückkam, ganz ohne mein Zutun.
    Es vergingen viele Tage, bis ich lernte, aus der Tiefe meines Hirns immer neue und neue Worte herauszurufen, eins nach dem anderen. Jedes kam mit Mühe, jedes entstand plötzlich und für sich. Gedanken und Worte kehrten nicht als Strom zurück. Jedes kehrte einzeln zurück, ohne die Begleitung anderer bekannter Wörter, und entstand zuerst auf der Zunge und dann – im Gehirn.
    Und dann kam der Tag, wo alle, sämtliche fünfzig Arbeiter die Arbeit hinwarfen und in die Siedlung liefen, zum Fluß, alle aus ihren Schürfen und Gräben krochen, die halbzersägten Bäume, die halbgare Suppe im Kessel stehenließen. Alle liefen schneller als ich, aber auch ich kam rechtzeitig hingehumpelt, ich stützte mich auf dem Weg den Berg hinab mit den Händen ab.
    Der Chef war aus Magadan angereist. Der Tag war klar, heiß und trocken. Auf dem riesigen Lärchenstumpf vor dem Zelteingang stand ein Koffergrammophon. Das Grammophon spielte, gegen das Knistern der Nadel, spielte irgendeine sinfonische Musik.
    Und alle standen drumherum – Mörder und Pferdediebe, Ganoven und
frajer
, Aufseher und Arbeiter. Und der Chef stand dabei. Und er machte ein Gesicht, als hätte er selbst diese Musik geschrieben, für uns, für unsere abgelegene Tajga-Außenstelle. Die Schellackplatte drehte sich und knisterte, und es drehte sich der Baumstumpf selbst, angekurbelt mit all seinen dreihundert Ringen, wie eine fest gespannte Feder, aufgezogen für ganze dreihundert Jahre ...
    1965

Glossar
    Enthält in alphabetischer Reihenfolge Begriffe, geographische Bezeichnungen und Personennamen (die wissenschaftliche Transkription der Namen wird in Klammern eingefügt)
.
    Achtundfünfziger – nach dem berüchtigten Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches verurteilte Personen; Artikel 58 sah eine Verurteilung wegen konterrevolutionärer Tätigkeit und Agitation vor.
    »Beschwörung durch Feuer und Finsternis« (1907; russ.: »Заклятие огнем и мраком«) – Gedichtzyklus von Aleksandr Blok.
    Blok – Aleksandr (1880-1921), russischer symbolistischer Dichter.
    Brotration – (russ.: pajka), Tagesration der Gefangenen an Brot; durchschnittlich 400 bis 800g.
    burki – Stiefel aus verschiedenen Materialien (Fell, Lumpen, Watte).
    Butyrka-Gefängnis – im 17. Jahrhundert erbautes Gefängnis in Moskau; nach 1917 war es politisches Gefängnis und Durchgangsstation auf dem Weg in den GULag.
    bytowik
– (russ. byt: Alltag); Bezeichnung für einen Häftling, der wegen Diebstahls, Betrugs oder ähnlicher Delikte verurteilt wurde, aber nicht zur Gruppe der Berufsverbrecher gehörte; während die Grenze zu den politischen Gefangenen damit klar abgesteckt war, wird die Grenze zur Gruppe der Kriminellen nicht immer eindeutig definiert.
    Der Begriff war schon vor 1922, vor der Einführung der ersten sowjetischen Strafgesetzgebung gebräuchlich, als die Auffassung dominierte, die Lebensbedingungen im zaristischen Rußland seien die Ursache für kriminelle Handlungen.
    Dalstroj – Hauptbauverwaltung des Hohen Nordens, Bezeichung für das 1931 gegründete NKWD-Unternehmen zur Erschließung und Industrialisierung des nordöstlichen Sibiriens mit Sitz in Magadan an der oberen Kolyma, dem das gesamte Lagergebiet SWITLag (nordöstliche Lager) unterstand.
    Dekabrist – (vom russ. Wort: dekabr – Dezember); Bezeichnung für einen Teilnehmer an der konspirativen Bewegung zur Vorbereitung von sozialen Reformen im zaristischen Rußland; Teilnehmer waren vorwiegend westlich gebildete Offiziere aus dem Adel; die Revolte in Petersburg vom Dezember 1825 mißglückte; die Anführer wurden hingerichtet, Hunderte zur Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt.
    dochodjaga
– (plural:
dochodjagi
); Ausdruck in der Lagersprache des GULag für einen Menschen, dessen physische Auszehrung ein Stadium erreicht hatte, daß er dem Tod näher war als dem Leben. Mit aller gebotenen Vorsicht sei auf den im Lagerjargon der deutschen Konzentrationslager gebräuchlichen Begriff »Muselmann«, den »Menschen in Auflösung« (Primo Levi), hingewiesen. Überlebende des GULag berichten, daß ein
dochodjaga
im Lagerkrankenhaus, wenn er Glück hatte, auch wieder ins Leben zurückgeholt werden konnte.
    Etappe – Durchgangsstation bzw. Gefangenentransport von einem Lager ins andere.
    »Fließband« –

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