Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
sich auf die Terrasse zu erheben begann, auf den Felsvorsprung, wo der alte Weg vorbei am Lagerfriedhof verlief, über den man uns Hunderte Male zur Arbeit getrieben hatte.
Ich hatte nicht darüber nachgedacht, warum man uns die letzten Wochen auf einem anderen Weg zur Arbeit führte und nicht den bekannten, von den Stiefelabsätzen der Begleitposten und den Gummi
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der Häftlinge getretenen Pfad. Der neue Weg war doppelt so lang wie der alte. Auf Schritt und Tritt gab es Steigungen und Gefälle. Wir waren müde, ehe wir am Einsatzort ankamen. Aber niemand fragte, warum wir einen anderen Weg geführt wurden.
So muß es sein, das ist Befehl, und wir krochen auf allen vieren und klammerten uns an die Steine, schlugen uns die Finger am Stein blutig.
Erst jetzt sah und begriff ich, worum es ging. Und ich dankte Gott, daß er mir die Zeit und die Kraft gegeben hat, all das zu sehen.
Der Holzeinschlag war vorangeschritten. Der Berghang war bloßgelegt, der Schnee, noch nicht tief, vom Wind verblasen. Die Baumstümpfe waren bis auf den letzten ausgerissen – an die großen legte man eine Ladung Ammonal , und der Stumpf ging hoch. Die kleineren Stümpfe wurden mit Brecheisen herausgezogen. Noch kleinere – einfach mit den Händen, wie Krummholzbüsche ...
Der Berg war bloßgelegt und in eine gigantische Bühne für ein Schauspiel verwandelt, für ein Lagermysterium.
Das Grab, das Häftlingsmassengrab, eine steinerne Grube, schon im Jahr achtunddreißig bis oben hin mit unverweslichen Toten vollgestopft, war aufgegangen. Die Toten krochen über den Berghang und enthüllten das Geheimnis der Kolyma.
An der Kolyma übergibt man die Körper nicht der Erde, sondern dem Stein. Der Stein bewahrt und enthüllt Geheimnisse. Stein ist verläßlicher als Erde. Der Dauerfrostboden bewahrt und enthüllt Geheimnisse. Jeder unserer Nächsten, der an der Kolyma gestorben ist, jeder Erschossene, Totgeschlagene, von Hunger Ausgezehrte läßt sich noch identifizieren, selbst nach Dutzenden Jahren. An der Kolyma gab es keine Gasöfen. Die Leichen warten im Fels, im ewigen Eis.
Im Jahr achtunddreißig standen in den Goldbergwerken ganze Brigaden beim Ausheben solcher Gräber, unaufhörlich bohrend, sprengend und die riesigen, grauen, harten, kalten Steingruben vertiefend. Gräberschaufeln war im Jahr achtunddreißig leichte Arbeit, dort gab es kein »Tagwerk«, keine Norm, die auf den Tod des Menschen berechnet war, auf einen Vierzehnstundentag berechnet war. Gräber schaufeln war leichter, als in Gummi
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am nackten Fuß im Eiswasser beim Goldabbau zu stehen – der »Hauptproduktion« des »ersten Metalls«.
Diese Gräber, riesige Steingruben, wurden bis oben mit Toten gefüllt. Unverwesliche Tote, nackte Skelette, von Haut umspannt, von schmutziger, zerkratzter, von Läusen zerbissener Haut.
Der Stein, der Norden stemmte sich mit allen Kräften gegen diese Arbeit des Menschen und ließ die Toten nicht in sich ein. Der Stein, gewichen, besiegt und erniedrigt, versprach, nichts zu vergessen, versprach zu warten und das Geheimnis zu hüten. Die harten Winter, die heißen Sommer, Winde und Regen – hatten dem Stein in sechs Jahren die Toten genommen. Die Erde hatte sich aufgetan und zeigte ihre unterirdischen Kammern, denn die unterirdischen Kammern der Kolyma bergen nicht nur Gold, nicht nur Zinn, nicht nur Wolfram, nicht nur Uran, sondern auch unverwesliche menschliche Körper.
Diese menschlichen Körper krochen über den Hang, vielleicht in der Absicht aufzuerstehen. Ich hatte auch schon früher von unten – von der anderen Seite des Bachs – diese wandernden, an den Baumstümpfen, den Steinen hängenden Gegenstände gesehen, sie durch den schütteren ausgeholzten Wald gesehen und für Stämme gehalten, noch nicht gerückte Stämme.
Jetzt war der Berg entblößt und sein Geheimnis enthüllt. Das Grab hatte sich aufgetan, und die Toten krochen über den Steinhang. Neben dem Traktorweg war – von wem? aus der Baracke wurden zu solchen Arbeiten keine Leute geholt – ein riesiges neues Massengrab ausgehauen, herausgeschlagen. Sehr groß. Wenn ich und meine Kameraden – wenn wir erfrieren und sterben, wird sich ein Platz für uns in diesem neuen Grab finden, Umzug für Tote.
Der Bulldozer schob diese steifgefrorenen Leichen zusammen, Tausende Leichen, Tausende skelettgleiche Tote. Alles war unvergänglich: die gekrümmten Finger, die eiternden Zehen – nur noch Stümpfe infolge der Erfrierungen –, die bis aufs
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