Linna singt
erstaunt die Brauen nach oben.
»Du müsstest das eigentlich wissen, Linna. Angus and Julia Stone.« Wow, sein Englisch. Mir fällt wieder auf, wie perfekt und gleichzeitig verkehrt es klingt. Verschliffen. Ja, das ist das richtige Wort, er verschleift alles, aber es geht ihm verblüffend leicht von den Lippen. Obwohl er spricht, hört es sich an wie Singen. Und ich mag es, wenn er singt. Ich mag es zu sehr. »Steht doch auf der Liste. Draw Your Swords. «
Die Liste. Maggies Liste mit den Songs, die wir üben sollten. Ich habe sie mir gar nicht erst durchgelesen. Oh, zum Henker, wie soll ich ihnen nur beibringen, dass ich nicht mehr singe? Oder wieder ganz von vorne anfangen muss?
»Mach es aus, bitte. Bitte!«
Falk hat keine Ahnung, was er anrichtet. Egal, welche Musik er spielt – jeder einzelne Takt wird mich daran erinnern, was ich den anderen noch gestehen muss. Ungerührt schaltet Falk von CD auf Radio um und dreht sofort lauter. Jetzt also auch noch seichtes Popgeträller, You’re the Voice von John Farnham, einer dieser Songs, die für Menschen geschrieben wurden, die ein gänzlich anderes Leben als ich führen, ein fröhliches, heiteres, unbeschwertes. Falk pfeift leise mit, den Blick wieder auf die Straße gerichtet und ein verklärtes Lächeln auf seinen Lippen, doch ich drehe mich von ihm weg, ziehe den Schlafsack über meinen Kopf und versuche vergeblich, das Radiogedudel zu verbannen, bis wir nach Stunden des Schweigens endlich angekommen sind und Falk den Wagen zum Stehen bringt.
Meine Zähne schmerzen, als hätte ich in jedem einzelnen Karies, während ich mich aus meinem knisternden Umhang schäle und gähnend aussteige. Es regnet immer noch, nun vermischt mit Graupel, selbst hier in den Bergen, die man vor lauter Wolken und Dunst nicht sehen kann. So viel also zum Thema Hüttenzauber im Schnee. Falk klappt den Kragen seiner Jacke hoch und schlurft mir voraus zu den anderen, die fröstelnd beieinanderstehen und diskutieren.
»Was soll ich denn machen, ich erreiche ihn nicht! Er geht nicht ans Telefon!« Das ist Tobis Stimme. Ich hebe den Kopf, zum ersten Mal seit unserem Halt an der Raststätte. Die Fahrt von Jules, Maggie, Simon und Tobias scheint nicht viel besser als unsere verlaufen zu sein. Einer sieht übermüdeter aus als der andere.
»Versuch es noch einmal, bitte«, fordert Maggie Tobias in mütterlich-strengem Ton auf. Bei ihm zeigt er umgehend Wirkung. Sofort wählt er und hebt das Handy ans Ohr.
»Da seid ihr ja endlich«, begrüßt uns Jules griesgrämig. »Der Schlitten kommt nicht.«
»Welcher Schlitten?«, frage ich und schaue mich um. Am Rand des Bürgersteigs und auf den Dächern liegt schmutziger Altschnee; der Rest des Dorfes verschwindet im Nebel. Doch ich spüre an der Luft, dass wir uns im Gebirge befinden. Trotz des Dunstes fühlt sie sich klarer und reiner an als in der Rheinebene. Unerbittlich kriecht die feuchte Kälte unter meine Jeans und meine lange Unterwäsche. Ich stampfe fest auf, um meine Blutzirkulation anzuregen.
»Die Straße zur Hütte ist gesperrt. Sie ist nur im Sommer befahrbar«, erklärt Simon mit Leichenbittermiene die Lage. »Eigentlich sollte uns ein Motorschlitten abholen und hochbringen und anschließend das Gepäck und die Instrumente transportieren. Eigentlich …«
Er mustert Tobi, als wolle er ihn in der nächsten Minute zu fünfzehn Jahren Haft ohne Bewährung verurteilen. Strafbestand: unzuverlässige Organisation und lückenhafte Information. Ohne zu fragen, weiß ich plötzlich, was Simon studiert. Jura. Er hat früher hin und wieder davon geredet, das tun zu wollen, nicht Cello, wie alle angenommen haben, sondern Jura. Er wollte für Gerechtigkeit sorgen. Aus dem Mund des damaligen Simon hatte das rebellisch geklungen. Jetzt wird er ein Sesselpupser werden wie fast alle anderen Juristen auch. Am Ende findet er das sogar toll und betrachtet seine früheren Punk-Anklänge klammheimlich als unbedachte Jugendsünden, an die er nicht mehr erinnert werden möchte.
»Mailbox. Immer nur die Mailbox dran.« Betreten äugt Tobias in die Runde. »Und jetzt?«
»Ich geh in das Wirtshaus da drüben und frag nach. Irgendwie werden wir ja wohl auf die Hütte kommen«, beschließt Jules. »Kommst du mit?« Er wirft Falk einen blitzenden Blick zu.
Anstatt zu antworten, geht Falk voraus – wie früher, er spart sich jedes überflüssige Wort. Wir lassen die beiden ziehen und warten schweigend und frierend, bis sie zurückkommen, ihre Mienen
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