Linna singt
nicht zu lange Pause machen, sonst kühlen wir aus. Steh auf, das ist nicht gut, Tobias.«
Müde stemmt er sich hoch.
»Was ist mit Luna?«, frage ich Falk.
»Der Schnee klebt unter ihren Pfoten fest. Sie kann so nicht laufen.« Falk hebt eines ihrer langen Beine an, um uns zu zeigen, was er meint. Dicke, schmutzig weiße Klumpen aus Eis und Schnee hängen zwischen ihren Zehen. Sie haben sich fest mit ihrem dichten Fell verbunden. »Ich muss das Eis lösen.« Falk greift unter ihren Bauch und hievt sie auf den Rücken, um eine Pfote nach der anderen mühselig von den Eisklumpen zu befreien, während wir frierend neben ihm warten. Als er sich aufrichtet, entweicht sogar ihm ein angestrengtes Keuchen, doch Luna kann wieder laufen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, dreht Falk sich um und marschiert weiter. Seine Gitarre schlägt bei jedem Schritt gegen seine Hüfte.
»Halt dich am Riemen fest. Na mach schon …« Maggie senkt beschämt die Lider, schiebt ihre Hand aber unter den Bauchgurt meines Rucksacks. »Und ihr zwei helft euch gegenseitig, okay?« Ich schaue Simon prüfend an, denn auch er wirkt, als würde er sich am liebsten an Ort und Stelle in den Schnee sinken lassen und nie wieder aufstehen, doch er nickt stumm.
»Geht’s, Simon?«, fragt Maggie besorgt.
»Geht«, antwortet Simon mit zusammengebissenen Zähnen, schiebt sich die beschlagene Brille hoch und hakt sich bei Tobias unter.
Ich bin froh, dass ich mich bewegen kann. Dieser Aufstieg ist eine Tortur, aber ich genieße sie. Es ist wie bei einem Kampf, Schmerzen und Adrenalin, er wird immer dann am schönsten, wenn ich eigentlich nicht mehr kann und aus ungeahnten Reservoirs meines Körpers neue Energien freisetze.
Schritt für Schritt ziehe ich Maggie den Berg hinauf, die letzten fünfhundert Meter erscheinen uns wie eine Ewigkeit und die Hütte wie eine Fata Morgana, als sie endlich aus dem Dunst vor uns auftaucht; ein wuchtiges Haus mit umlaufender Sonnenterrasse, erbaut aus Steinen und Holz und mit grandiosem Ausblick auf das Bergpanorama. Vorausgesetzt, es herrscht kein Dauerregen mit Nebel. Etwas weiter hinten, neben den hochgewachsenen Tannen, ragt ein kleiner, windschiefer Schuppen aus dem Schnee. Sonst kein Haus weit und breit. Hier oben sind wir ganz allein. Niemand kann uns hören und sehen.
Auf den Stufen hinauf zum Eingang rutscht Maggie aus und reißt mich mit sich. Ineinander verhakt prallen wir gegen das Geländer, bis ich mein Gleichgewicht finde und sie wie ein Stück Gepäck zur Tür schleife, wo Jules, Falk und Luna schon auf uns warten. Jules atmet schwer und reibt sich seine schmerzenden Oberschenkel. Für ein paar Sekunden lehnt er sich vor Erschöpfung an Falk, ein ungewohntes Bild, aber ich kann Jules verstehen. Falk ist wie ein Baum, er stürzt nicht. Wenn man sich an einen von uns anlehnen kann, dann ist es er. Einhändig zieht er mir meinen Rucksack und Maggies Geige vom Rücken. Meine Unterwäsche klebt mir klamm am Körper, und sobald ich stehen bleibe, fange ich an zu frieren. Ich muss dringend ins Warme.
»Hier.« Mit bebenden Fingern nestelt Tobias den Schlüssel aus der Brusttasche seiner Jacke und reicht ihn Jules. Er ist fix und fertig, zwingt sich aber zu einem schiefen Grinsen, das er mit einer einladenden Geste in Richtung Tür garniert. »Willkommen auf der Brandalm.«
SHADOW ON THE WALL
Hier stimmt etwas nicht, denke ich spontan, als Jules die schwere Eingangstür aufschiebt und wir schlotternd ins Innere drängen, weil jeder nur noch raus aus dem Regen und rein ins Warme will. Aber diese Hütte ist nicht warm. Feuchtkalte, verbrauchte Luft schlägt uns entgegen. Außerdem ist es stockfinster. Ich höre Lunas Pfoten über den Boden klacken, sie ist die Einzige, die es wagt, sich zu bewegen, während wir sofort wieder verharren und dicht beieinander stehen bleiben.
»Gibt es hier kein Licht?«, fragt Maggie in die plötzliche Stille hinein. Sie klingt ängstlich, obwohl es sachlich betrachtet keinen Grund gibt, Angst zu haben. Wir sind alle heil angekommen. Niemand ist verletzt. Wir haben es geschafft. Hinter uns prasselt der Regen unvermindert stark auf den nassen Schnee.
»Doch, eigentlich schon, wir haben hier in jedem Zimmer fest installierte Gasleuchten und für die Not einen Stromgenerator, die Hütte ist bestens ausgestattet«, beschwichtigt Tobias sie rasch, als würde er einen Werbetext aus einem Katalog herunterbeten. Ich höre, wie seine Hand neben mir suchend über die Wand tastet.
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