Lippenstift statt Treppenlift
SPD beigetreten.
»Wir haben ihm jedenfalls gesagt, Hitler gibt’s nicht mehr. Da sagte er: Gott sei Dank ist der endlich weg!«
Natürlich war nicht alles hundertprozentig positiv im Hospiz, das ist es ja nie. Einmal zum Beispiel sprach mich eine Frau von der Leitung an, Frau Marder, und sagte, dass wir mit Papa nun über seine Beerdigung sprechen sollten.
»Aber warum? Ich habe eher das Gefühl, mein Vater möchte sich jetzt eher mit schönen Dingen wie Essen und Trinken beschäftigen«, sagte ich. Wir waren gerade bei der zweiten Flasche Whiskey angelangt.
»Die meisten Patienten fühlen sich aber enorm erleichtert, wenn sie die Beerdigungsmodalitäten geregelt haben«, beharrte Frau Marder, aber da wurde ich regelrecht sauer:
»Noch ist unser Vater am Leben. Um die Beerdigung kümmern wir uns, wenn es so weit ist!«, sagte ich sehr bestimmt. Doch ich habe bis heute das ungute Gefühl, dass Frau Marder auch Papa Tag für Tag mit dem Beerdigungsthema auf die Nerven fiel.
Es gab noch etwas, was am Hospiz schrecklich war, und zwar ganz einfach, dass es ein Hospiz war: ein Ort zum Sterben. Die wunderbaren Pfleger und Pflegerinnen ließen einen dies zwar oft vergessen. Aber deswegen schockierte es mich immer umso mehr, wenn ich wieder einmal darauf gestoßen wurde.
Ich habe ja schon von dem schönen Herbstgarten vor Papas Fenster erzählt. Die Blätter hatten sich nun fast alle verfärbt und waren von den Bäumen gefallen, aber der Garten hatte nach wie vor etwas sehr Freundliches. Das lag auch an den bunt bemalten Isarkieseln, die rund um den Stamm einer Buche im Garten arrangiert waren. Linus bewunderte sie vom Fenster aus, er sah nirgendwo anders hin und wollte unbedingt selbst ein paar zu der Sammlung hinzufügen. Linus kam nicht gern mit zum Opa in seinem Sterbebett, nur zwei Mal ließ er sich dazu überreden, und er tat es mit einem Blick, als hätte er Todesangst vor dem Mann mit dem Mumiengesicht. Zwingen wollte ich ihn nicht. Auch Ida war nur zwei Mal dabei. Es war ihnen einfach zu viel, und das fand ich auch in Ordnung.
Jedenfalls wollte Linus nach dem Besuch unbedingt hinuntergehen und sich die bemalten Steine ansehen.
Es waren wirklich sehr viele Steine, und sie waren ganz unterschiedlich verziert: mit Blumen, Mustern, Aufklebern, kleinen Landschaftsbildern. Das Markanteste aber waren nicht die Bilder, sondern die Beschriftungen: Die Steine waren eine Art Grabsteine, bemalt von Menschen, deren Angehörige hier verstorben waren, und versehen mit Geburtsdatum und Todestag. Das traf uns beide wie ein Schlag. Da wollte Linus keinen Stein mehr bemalen.
Schließlich waren ungefähr drei Monate um, und Papa war immer noch da. Die Besuche bei ihm, jeden Tag oder mindestens jeden zweiten (Lisa und ich wechselten uns ab), gehörten fast schon zum ganz normalen Alltag. Seit Jahren, ja unser ganzes Erwachsenenleben lang, hatten Lisa und ich unseren Vater nicht so oft und so lange gesehen. Und wenn man sich an das Mumiengesicht und die dürren Arme gewöhnt hatte, war es einfach nur schön, ihn zu treffen. Es machte Spaß, mit ihm zu plaudern. Es wurde ganz normal, auch mal schweigend zusammen die TV -Nachrichten zu sehen. Es war lustig, zusammen zu essen und Whiskey zu trinken (wir waren bei der dritten Flasche). Es war eine schöne Zeit. Man kann sogar sagen, sie hat uns ein bisschen von unserem verlorenen Vater zurückgebracht. Die Distanz zwischen uns war jedenfalls ein gutes Stück geschmolzen.
»Und was macht eure Mutter so? Hat sie nicht mal nach mir gefragt?«, sagte Papa einmal ganz am Schluss eines Besuchs.
»Klar, die richtet doch dauernd Grüße aus, weißt du nicht mehr?« Das war ein bisschen gelogen, aber er merkte es nicht. Er war ja wegen der Metastasen etwas vergesslich.
»Soll ich sie dir schicken, so wie den Onkel Franz?«, fragte ich. Mama hätte sich sicher nicht geweigert.
Er überlegte kurz, aber dann wollte er lieber nicht: »Schon gut, lass es lieber sein, um Himmels willen! Das wird mir bloß zu anstrengend mit der alten Hex’!«
Jedenfalls: Es wurde immer netter und vertrauter mit Papa. Kein Wunder, dass wir immer öfter vergaßen, wozu er eigentlich da war. Man vergisst so was gern mal, betrügt sich selbst und sucht Gründe für Hoffnung. Eine Dame von der Krankenkasse, mit der ich einmal über die weitere Finanzierung des Hospizes reden musste, erzählte mir beispielsweise, sie habe auch immer wieder Fälle erlebt, wo Menschen bis zu zwei oder drei Jahren ganz fröhlich in
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