Lisbeth 02 - Ein Mädchen von 17 Jahren
vorsichtig ihren kleinen Finger in seine Hand und starrte unentwegt auf das winzige rosige Geschöpf indem Babykorb. Dann wandte sie sich nach mir um, ging auf den Zehenspitzen zu meinem Bett, beugte sich über mich und küßte mich auf die Backe. Da merkte ich, daß zwei Tränen aus Lisbeths Augen mir auf das Gesicht tropften.
„Weinst du, mein Kind?“
Lisbeth lachte durch die Tränen.
„Ich weiß nicht, weshalb ich weine, Mutti – vielleicht, weil ich mich zu sehr freue. Es ist, als weinte ich, weil Brüderchen so schrecklich klein ist, und weil – ja, weil ich dich so fürchterlich liebhabe – “. Hilflos brach Lisbeth ab.
Heming kam ihr zu Hilfe.
„Merkwürdig, wie gut wir einander verstehen, Lisbeth“, sagte Heming. „Genauso, wie es dir ergeht, ergeht es mir auch. Aber nun soll das Brüderchen schlafen, und wir beide rufen jetzt bei Anne-Grete an und erzählen ihr, daß er angekommen ist.“
Lisbeths Tränen versiegten sofort.
„Oh! Darf ich es ihr erzählen?“
„Das darfst du“, sagte Heming.
2
Zwei Jahre später. Ein Bild von Lisbeth auf dem Sprungturm des Strandbades. Ihr kleiner Körper ist eine einzige Stahlfeder, ihr Gesicht braun und sonnenverbrannt.
Lisbeth zu Pferde. Sie reitet für ihr Leben gern. Vor etwa einem Jahr hat sie damit angefangen.
Lisbeth auf Skiern. Heming hat ihr das Skifahren beigebracht. Sie ist furchtlos und waghalsig. Die beiden haben mich längst abgehängt. Wenn wir über Ostern in unserer Berghütte sind, machen Heming und Lisbeth Tagestouren,während Peik und ich auf den kleinen Hängen in der Nähe der Hütte üben.
Ein Bild von dem Tage, an dem Lisbeth anfing, das Gymnasium zu besuchen.
„Ich will in den Sprachen etwas Tüchtiges leisten – wie Mutti“, sagte Lisbeth. „Und ich will Gymnasiallehrerin werden – wie Vater.“ Sie ist in der sprachlichen Abteilung. Im Französischen und Englischen ist sie die Beste ihrer Klasse. Das hat sie Heming zu verdanken.
„Du mußt Lisbeth Fremdsprachen beibringen“, sagte Heming, als wir eben verheiratet waren. „Laß sie mit Hilfe der Ohren lernen – genauso, wie du es selber gelernt hast. Denke daran, wieviel Arbeit ihr erspart bleibt, wenn sie später aufs Gymnasium kommt. Und zugleich zwingst du mich auf diese Weise, ebenfalls in der Übung zu bleiben.“
Wir führten unser Vorhaben wirklich durch. Bei den Mahlzeiten sprachen wir stets französisch. Später gingen wir zum Englischen über. Jetzt halten wir es mit Peik ebenso. Er plappert jetzt schon ganz nett französisch, und es ist ganz lustig zu beobachten, wie leicht und schnell ein kleines Gehirn und kleine Ohren eine neue Sprache aufnehmen.
Das ist freilich alles, was ich die Kinder habe lehren können. Sprachen sind noch immer das einzige, was ich kann – aber die kann ich auch wirklich. Ich übersetze noch immer für den Verlag Rambech, und er ist mit meiner Arbeit sehr zufrieden.
Ich blättere im Album weiter.
Lisbeth und Morten auf Skiern. Lisbeth und Morten im Boot. Lisbeth und Morten in Kopenhagen auf dem Rathausplatz. Dieses Bild stammt vom vergangenen Sommer, als wir alle eine Reise nach Kopenhagen machten, zu der wir Morten eingeladen hatten.
Morten und Lisbeth gehen in dieselbe Klasse. Sie sind seit ihrem vierzehnten Lebensjahr miteinander befreundet.
Zum Schluß kommen die Bilder von Lisbeths siebzehntem Geburtstag im letzten Frühjahr. Die Bilder, die wir seither gemacht haben, liegen ungeordnet vor mir auf dem Tisch und warten darauf, daß sie sortiert und in das Album geklebt werden.
Ich betrachte die Gruppenaufnahmen von Lisbeths Geburtstag. Junge Mädchen mit kurzgeschnittenen Lockenköpfen, große Jungen in dunklen Anzügen, zwei von ihnen im Smoking. Das Geburtstagskind in der Mitte. Lachende und glühende Gesichter. Morten steht neben Lisbeth und hat den Arm um ihre Schultern gelegt.
In der hinteren Reihe entdecke ich Mariannes bleiches Gesicht mit dem hellblonden welligen Haar. Ich erinnere mich noch des blaßgrünen Kleides, das sie an jenem Abend trug. Es war genauso farblos wie ihre ganze Erscheinung.
Mein Blick kehrt zu meinem eigenen, sonnenverbrannten, kerngesunden großen Mädchen zurück, und mich durchströmt ein Gefühl heißen Glückes und tiefster Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber, das mir Lisbeth an jenem Frühlingstage vor zehn Jahren geschickt hat.
Meine Tochter Lisbeth-----!
Genau besehen, begann es an Lisbeths siebzehntem Geburtstag. Bis dahin war alles zwischen ihr und uns recht
Weitere Kostenlose Bücher